Amphilochios Papathomas


Die Enttäuschung des belesenen Severus
Eine Anspielung auf Herodot I 44, 2 im Brief P.Oslo II 50



Schon in der hellenistischen Zeit sind die Anfänge eines Phänomens zu beobachten, das in den griechischen Texten der hohen Kaiserzeit und der Spätantike häufiger anzu­treffen ist: Der belesene Autor spielt auf literarische Stellen an, ohne sie ausdrücklich zu nennen, und lädt damit seinen Adressaten bzw. Leser ein, die Intertextualität zu erfassen. Ist der Leser belesen genug, um die Anspielung zu erkennen, so entsteht bei ihm das befriedigende Gefühl, dass er auf einer anspruchsvollen Ebene mit dem Ver­fasser kommuniziert. Falls die Anspielung nicht erkannt wird, ist der Leser aber meistens immerhin in der Lage, den praktischen Kern der Botschaft auf einer etwas oberflächlicheren Ebene zu verstehen. Dieses Spiel des Autors mit dem belesenen Leser erlebt seinen Höhepunkt im Griechischen in den Texten der byzantinischen Zeit [1].

Im Folgenden möchte ich auf einen Brief aufmerksam machen, der meines Erach­tens ein relativ frühes Beispiel für diese Praxis bietet. Es handelt sich um den kaiser­zeitlichen Papyrus P.Oslo II 50 (1./2. Jh. n. Chr.), in dem ein gewisser Severus seine Enttäuschung darüber zum Ausdruck bringt, dass der im arsinoitischen Dorf Karanis weilende Adressat namens Limnaios ihm keinen Besuch abstattete, als Severus von Alexandria nach Arsinoiton Polis kam, und dies, obwohl Limnaios von dessen Aufent­halt in der Hauptstadt des Arsinoites Bescheid wusste. Der Text ist in der Erstedition wie folgt transkribiert (der app. crit. stammt von mir):

 

Zunächst eine Bemerkung zur Textkritik: Soweit ich sehe, ist die Transkription der ed. pr. zuverlässig [2]. Die vier bis heute vorgeschlagenen Korrekturen sind meines Erachtens abzulehnen. Dies gilt sowohl für die drei alten Berichtigungen von K. F. W. Schmidt (Göttingische Gel. Anz. 194 [1932] 284), nämlich Z. 4–5: Ἀρσινο|είτου ἔ[γ]νωκά σε. τί ἦλθον; Z. 7–8: ἤλπιζόν [ποτε π]άσχειν und Ζ. 9–10: ἐσχηκ[έν]α̣ι̣ ἐκ[θρόν μοι ὄντα σε ἔγνωκα] (aufgenommen in BL III 122–123), die allesamt in der Literatur bereits angezweifelt bzw. abgelehnt worden sind [3], als auch für die neuerdings vorgeschlagene Berichtigung von ἔσχηκ[α ὧ]δε (Z. 9) zu ἔσχηκά̣ σ̣ε̣ δέ[4]. Der letztere Vorschlag ist meiner Ansicht nach aus drei Gründen zu verwerfen: a) Die Partikel δέ ist eigentlich an der zweiten und nicht an der dritten Stelle des Satzes zu erwarten, b) die Rekonstruktion von δέ lässt sich mit dem meines Erachtens zutreffend rekonstruierten νομίζων nicht vereinbaren, da beide Wörter dieselbe Antithesis zum Ausdruck bringen (νομίζων macht δέ somit überflüssig), c) das mutmaßliche ε von σ̣ε̣ ist paläographisch nicht überzeugend, weil sein rechter Teil zu geschlossen ist und von seinem angeb­lichen horizontalen Strich keine Spur sichtbar ist. Mit Bezug auf diese Stelle sollte man jedoch bemerken, dass man ἀδε]λ̣φὸν ἔσχηκ[α] ὧδε anstelle von ἀδελ]φὸν ἔσχηκ[α ὧ]δε transkribieren sollte. Von λ gibt es noch einen Teil der rechten Haste, und ω ist trotz Beschädigung eindeutig zu lesen. Die erhaltenen Tintenspuren schließen auch eine Lesung wie ο̣ὐ̣δέ (anstelle von ὧδε) aus; zur Schreibweise von ου vgl. z.B. οὐκ in Z. 6.

In den fragmentarisch erhaltenen Z. 8–10 macht der Herausgeber korrekterweise darauf aufmerksam, dass die Antithesis φίλος – ἐχθρός ein Topos in der griechischen Epistolographie ist. Im konkreten Fall scheint mir aber Severus nicht auf eine allge­meine Topik zurückzugreifen, sondern auf einen konkreten Passus anzuspielen, näm­lich Herodot I 44, 2. Dabei handelt es sich um die abschließende Partie der sogenannten Novelle von Adrastos und Krösus (Herod. I 35–45): Adrastos, Sohn des phrygischen Königs Gordias, tötet unabsichtlich seinen Bruder und kommt, als er von seinem Vater mit Verbannung bestraft wird, als Schutzflehender an den Hof des lydischen Königs Krösus. Dieser führt eine rituelle Reinigung vom Mord durch und nimmt ihn in seinen Palast freundlich als Gast auf. Als Atys, der Lieblingssohn und Thronnachfolger des Krösus, an einer gefährlichen Jagd auf einen gewaltigen Eber in Mysien teilnehmen soll, bietet Krösus seinen Gast darum, er möge mitfahren und darauf achten, dass Atys nichts Schlimmes geschehe. Trotz der besten Absichten des Adrastos stirbt Atys durch die Hand der Person, die ihn beschützen sollte: Adrastos erschießt ihn unabsichtlich während der Jagd, was Krösus in tiefen Kummer stürzt.

Im Osloer Brief scheint Severus auf Herod. I 44, 2 anzuspielen. Das Jammern des lydischen Königs endet dort mit der Feststellung, dass Adrastos sich gegenüber seinem Wohltäter als Feind statt als Freund erwiesen hat: Ὁ δὲ Κροῖσος τῷ θανάτῳ τοῦ παιδὸς συντεταραγμένος μᾶλλον τι ἐδεινολογέετο ὅτι μιν ἀπέκτεινε τὸν αὐτὸς φόνου ἐκάθηρε· περιημεκτέων δὲ τῇ συμφορῇ δεινῶς ἐκάλεε μὲν Δία καθάρσιον, μαρτυρόμενος τὰ ὑπὸ τοῦ ξείνου πεπονθὼς εἴη, ἐκάλεε δὲ ἐπίστιόν τε καὶ ἑταιρήιον, τὸν αὐτὸν τοῦτον ὀνομάζων θεόν, τὸν μὲν ἐπίστιον καλέων, διότι δὴ οἰκίοισι ὑποδεξάμενος τὸν ξεῖνον φονέα τοῦ παιδὸς ἐλάνθανε βόσκων, τὸν δὲ ἑταιρήιον, ὡς φύλακα συμπέμψας αὐτὸν εὑρήκοι πολεμιώτατον[5]. Severus paraphrasiert in der kaiserzeitlichen Koine seine aus­führlichere und im ionischen Dialekt formulierte Vorlage, indem er sagt, dass er davon überzeugt war, dass Limnaios ihm wie ein Bruder (ἀδελφός) sei, dieser sich aber als Feind (ἐχθρός) erwiesen hat [6]. Das von Severus verwendete Wort ἀδελφός fasst zusam­men, was auch Krösus von Adrastos erwartet hätte, nämlich eine tiefere Verbundenheit und „Brüderlichkeit“. Der ἑταιρήιος Ζεύς sollte als Zeuge für das Scheitern des Adrastos dienen, Krösus die Freundschaft und Brüderlichkeit zu erwidern, die er von ihm empfangen hat. Das von Severus verwendete Wort ἐχθρός enspricht dem herodoteischen πολεμιώτατος.

Severus wollte seine große Enttäuschung über Limnaios rhetorisch gestalten. Dabei suchte er einen Passus aus dem im griechisch-römischen Ägypten gut bekannten ersten Buch Herodots aus [7], und zwar eine Stelle (44, 2), die zu den wichtigsten des Werkes gehört, da sie die Vergebung von Krösus an Adrastos vorbereitet, die einen Höhepunkt des frühklassischen Humanismus darstellt. Der Tatsache, dass die Verwendung von Herod. I 44, 2 als Vorlage eine gewisse Übertreibung darstellt, dürfte sich Severus bewusst gewesen sein. Schlussendlich kann die Tötung eines Kindes keineswegs ernst­haft mit einem nicht abgestatteten Besuch verglichen werden. Dies war aber nicht wich­tig für Severus: Was er wollte, war gerade dies: etwas spielerisch und bewusst ein wenig übertrieben bei Limnaios zu protestieren und dabei seine Belesenheit zu demon­strieren. Das spielerische Element erinnert an den Stil der hellenistischen Dichter der Heimatstadt des Severus, Alexandria. Die rhetorische Gestaltung seiner Beschwerde ist in den Kontext der Rhetorisierung des Stils im Rahmen der zweiten Sophistik einzu­ordnen.

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Institut für Klassische Philologie
Philosophische Fakultät, Universität Athen
Panepistimiopolis Zographu
15784 Athen, Griechenland
papath@phil.uoa.gr

Amphilochios Papathomas

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[1] Vgl. z.B. Th. Antonopoulou, Ancient Greek Authors in Byzantium: The Case of the Hom­ilies of the Emperor Leo VI , in: E. Karamalengou, E. Makrygianni (Hrsg.), ντιφίλησις . Studies on Classical, Byzantine and Modern Greek Literature and Culture in Honour of John-Theo­phanes A. Papademetriou , Stuttgart 2009, 551–557 mit weiterer Literatur in den Anm. 1 und 2 auf S. 551.

[2] Abbildungen des Papyrus sind im Internet vorhanden. Für das Recto siehe http://opes.uio. no/papyrus/scan/324r.jpg und für das Verso siehe http://opes.uio.no/papyrus/scan/324v.jpg.

[3] Siehe zuletzt P. Arzt-Grabner (unter Mitarbeit von R. E. Kritzer), 2. Korinther (PKNT 4), Göttingen 2014, 250 (bes. Anm. 315).

[4] Siehe Chr. M. Kreinecker (mit einem Beitrag von G. Schwab), 2. Thessaloniker (PKNT 3), Göttingen 2010, 29 (Anm. 54).

[5] Zum Passus siehe etwa den Kommentar von D. Asheri in: D. Asheri, A. Lloyd, A. Corcella (hrsg. von O. Murray und A. Moreno, mit einem Beitrag von M. Brosius), A Commen­tary on Herodotus Books I–IV , Oxford 2007, 107 und von A. Papathomas,Το πρώτο βιβλίο των ιστοριών του Ηροδότου, Athen 22015, 378–380.

[6] Die in der Edition vorgenommene Rekonstruktion ἐκ|[θρὸν κτλ.] kann meines Erachtens als sicher gelten, weil sie nicht nur inhaltlich überzeugend, sondern auch sprachlich einwandfrei ist: Die Form ἐκθρός stellt einen in der Ptolemäer- und Römerzeit sehr verbreiteten Fehler für ἐχθρός dar; vgl. z.B. P.Tebt. III.1 768, 2–3 (116 v. Chr.?): Ἀρτεμίδωρον δὲ τὸν θεοῖσιν ἐκ̣|θρὸν ( l. ἐχθρὸν) ἐκκεκρουκέναι κτλ.; O.Narm. 15, 1–2 (2./3. Jh. n. Chr.): πρὸς ἐκθρὼ|ν (l. ἐχθροὺς) Σαραπίων (l. -ίωνος); SB XVI 12949, 23–24 (207 oder 268 n. Chr.; siehe HGV): Λαῖτος εἶπεν, ἐὰν οὖν ἔλθῃ τις πρὸς σ̣ὲ̣ ἐκθρὸς (l. ἐχθρὸς) | [ ± 25 ] ̣ ἔχων ἐκθρὸν (l. ἐχθρὸς) καὶ διαβάλλῃ ἄνθρωπον μηδένα und P.Oxy. XXXIV 2729, 40 (viell. um 352–354 n. Chr.; siehe BL XII 147): ὅτι μὴ νομίσῃς ὅτι ἐκθρός (l. ἐχθρός) σού εἰμι. Man hat sogar die These geäußert, dass ἐκθρός im 4. Jh. n. Chr. eine korrekte Schreibweise ist (siehe BL VII 152 zur letztgenannten Stelle). Ferner vgl. P.Tebt. I 5, 259 (118 v. Chr.): μηδὲ ἰδίας ἔκθρας (l. ἔχθρας) ἕνεκεν; O.Did. 423, 10 (ca. 125–140 n. Chr.): καὶ διὰ τὴν ἔκθραν (l. ἔχθραν) οὐκ ἠγόρ[ασα οὐ]|δὲ τῇ ἱορτῇ κρέας; BGU II 389, 8 mit BL I 43 (ca. 212–220 n. Chr.; siehe HGV): [- - - φα]νερὰν τὴν ἔκθραν̣ ( l. ἔχθραν).

[7] Zu den bis jetzt bekannten papyrologischen Zeugnissen zu dem ersten Buch siehe LDAB sowie Papathomas, Το πρώτο βιβλίο (Anm. 5) 170–177.