Amphilochios Papathomas


Ezechiel 12, 16–19 und 23–25 in einem
griechischen Pergament aus Ägypten*

Tafel 14



Im vorliegenden Aufsatz wird ein bislang unveröffentlichtes, beidseitig beschriftetes Pergamentfragment präsentiert, das Abschnitte aus dem Ezechiel-Buch der Septuaginta enthält. Das unscheinbare Stück, das zum griechischen Bestand der Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek gehört, ist von mittelbrauner Farbe und ringsum abgebrochen. Die Tinte ist schwarz. Die erhaltene Partie beginnt auf der Haarseite des Blattes und wird auf der Fleischseite fortgesetzt. Der Text ist in jeweils zwei Kolumnen pro Seite geordnet, was ein deutliches Indiz dafür ist, dass das Fragment aus einem Codex stammt. Damit scheidet die Möglichkeit aus, dass es sich — wie bei vielen aus Ägypten stammenden alttestamentlichen Texten — um ein Amulett handelt. Die Entzifferung des Textes der Haarseite wird dadurch erschwert, dass die Tinte dort stark verblasst ist und die Schrift von der Fleischseite durchscheint. Bei der Wiedergewinnung dieses für das freie Auge fast unsichtbaren Textes hat sich eine Ultraviolett-Lampe (Modell: Reskolux UV 365) als besonders hilfreich erwiesen.

Die erste Kolumne der Haarseite enthält eine Textpartie aus Ezechiel 12, 16 und die zweite minimale Überreste aus 12, 19. Die fast gänzlich verlorene erste Kolumne der Fleischseite überliefert Teile von vier Wörtern aus 12, 23. Die am besten erhaltene Partie ist die zweite Kolumne der Fleischseite, die einen Abschnitt aus Ezechiel 12, 24–25 enthält.

Der Text des Wiener Pergaments weist keine abweichenden Lesarten im Vergleich zum Standard-Text des Ezechiel-Buches auf. Seine Wichtigkeit liegt darin, dass es ein weiteres Zeugnis für diese in der griechischen Überlieferung Ägyptens selten bezeugte Schrift ist: Zur papyrologischen Überlieferung des Ezechiel-Buches (Papyri und Pergamente aus dem spätantiken und frühmittelalterlichen Ägypten und Nahen Osten) s. im Allgemeinen J. van Haelst,Catalogue des papyrus littéraires juifs et chrétiens, Paris 1976, Nr. 313–317 (S. 115–117) und K. Aland, Repertorium der griechischen christlichen Papyri, I: Biblische Papyri. Altes Testament, Neues Testa­ment, Varia, Apokryphen (Patristische Texte und Studien 18), Berlin, New York 1976, AT 145–146 (S. 205–207). In den vier Jahrzehnten, die seit dem Erscheinen dieser Kataloge verstrichen sind, hat sich die Lage wenig geändert. Bislang kannten wir nur insgesamt zwei Papyri und zwei Pergamente aus dem christlichen Ägypten, die Abschnitte aus dem griechischen Ezechiel-Text überliefern, wobei in einem dritten Papyrus zwei Ezechiel-Zitate vorhanden sind. Es geht um folgende Texte [1]:

I. Papyri: a) P.Chester Beatty IX + P.Köln Theol. 3–13; 15–16 (8); 42 a, b, c; 43 und ohne Inv.-Nr.[2] + P.Monts.Roca IV 46–47 + P.Matr. bibl. 1 + P.Princ.Scheide MS 97 (TM 61933; LDAB 3090; Van Haelst 315; Rahlfs 967; Aland AT 146 [010]; Rahlfs, Fraenkel 98–103; 182–183; 228; 249; 334–335); Ezechiel 11, 25–48, 35;
2./3. Jh. Für diesen Papyrus, der besser als P 967 bekannt ist, sei der Leser auf A. C. Johnson, H. S. Gehman, E. H. Kase,The John H. Scheide Biblical Papyri. Ezekiel (Princeton University Studies in Papyrology 3), Princeton 1938; J. Ziegler,Die Bedeutung des Chester Beatty-Scheide Papyrus 967 für die Textüberlieferung der Ezechiel-Septuaginta, ZATW N.F. 20 (1945/1948) 76–94 (= id., Sylloge. Gesammelte Aufsätze zur Septuaginta [Mitteilungen des Septuaginta-Unternehmens der Akademie der Wissenschaften in Göttingen], Göttingen 1971, 321–329) und I. E. Lilly, Two Books of Ezekiel. Papyrus 967 and the Masoretic Text as Variant Literary Editions (Supplements to Vetus Testamentum 150), Leiden, Boston 2012 verwiesen.

b) P.Grenf. Ι 5 (TM 61986; LDAB 3145; Rahlfs 922); Ezechiel 5, 12–6, 3; spätes 3./4. Jh. Über diese beiden Papyri hinaus vgl. noch das aus dem 4. Jh. stammende patristische Fragment PSI inv. 532, das von M. Naldini, Due papiri cristiani della collezione fiorentina, Studi italiani di filologia classica N.S. 33 (1961) 212–216 ediert wurde und zwei Zitate aus dem Buch Ezechiel (33, 11 und 18, 23) enthält (TM 64417; LDAB 5641; Van Haelst 1092; Rahlfs, Fraenkel 124–125[3]).

II. Pergamente: a) P.Ant. I 10 (TM 62021; LDAB 3180; Rahlfs 988); Ezechiel 33, 27–31; 34, 1–5.18–24.27–30; 4. Jh.

b) P.Ant. Inv. 25.1.06, ediert von G. Nachtergael und R. Pintaudi, Deux parchemins bibliques d’Antinoé, in: R. Pintaudi (Hrsg.), Antinoupolis I (Istituto Papirologico «G. Vitelli». Scavi e materiali 1), Firenze 2008, 117–130 (bes. 122–128) (TM und LDAB 113251); Ezechiel 45, 25–46, 14; zweite Hälfte des 4. Jh.

Wie den eben angeführten Daten zu entnehmen ist, sind die vom vorliegenden Pergament überlieferten Textpartien bis jetzt nur in einem weiteren ägyptischen Zeugen der Überlieferung des Ezechiel-Buches vorhanden, nämlich dem sogenannten P 967. Der Text der Haarseite unseres Pergaments befindet sich auf Blatt 10r und der Text der Fleischseite auf Blatt 11v dieses Papyruscodex[4]. Der griechische Text des Buches Ezechiel wird selbstverständlich auch in außerägyptischen Schriftquellen überliefert, die aus der Spätantike stammen [5]. Für eine Liste aller bekannten byzantinischen Manuskripte (meistens Pergament- oder Papiercodices), welche den Septuaginta-Ezechiel bezeugen, s. J. Ziegler (mit einem Nachtrag von D. Fraenkel), Ezechiel (Septuaginta. Vetus Testamentum Graecum 16.1), Göttingen 32006, 7–11. Man sollte hinzufügen, dass es aus dem christlichen Ägypten mehrere koptische Ezechiel-Übersetzungen gibt [6] und zudem viele lateinische Pergamente aus der Spätantike bzw. dem frühen Mittelalter aus verschiedenen Regionen der griechisch-römischen Ökumene erhalten sind[7]. Aus derselben Epoche gibt es schließlich eine Anzahl von Handschriften mit altsyrischen Übersetzungen des Ezechiel-Buches[8].

Das Wiener Pergament liefert keinen Hinweis auf seine Herkunft, und auch das Inventarbuch der Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek enthält keine Information zu seiner Erwerbung oder Provenienz. Daher ist eine präzisere Lokalisierung des Stückes innerhalb Ägyptens unmöglich. Für die Datierung des Pergaments sind paläographische Kriterien anzuwenden. Der Text ist in einer eleganten Buchschrift geschrieben, die einige Charakteristika der Schrift des 4. Jh. aufweist; vgl. z.B. G. Cavallo und H. Maehler, Greek Bookhands of the Early Byzantine Period. A.D. 300 – 800 (BICS Supplement 47), London 1987, Nr. 13a
(= P.Ryl. III 504) und 13c (P.Amh. II 24) (nach Cavallo und Maehler stammen diese Texte aus der ersten bzw. der zweiten Hälfte des 4. Jh.). Eine Datierung ins 4. Jh. ließe sich auch gut mit dem Umstand vereinbaren, dass alle aus Ägypten stammenden griechischen Zeugnisse für Ezechiel im Zeitraum zwischen dem 2. und dem 4. Jh. entstanden sind. Diesbezüglich sollte man jedoch auch auf paläographische Charakteristika des Stückes aufmerksam machen, die für eine etwas spätere Datierung als das 4. Jh. sprechen, wie etwa die Schreibweise des κ, dessen rechte Partie von seiner vertikalen Haste gelegentlich separiert wird. Daher wäre eine Datierung des Papyrus etwa ins 5. Jh. keineswegs auszuschließen.

Im Folgenden gebe ich eine Standard-Edition des vorhandenen Textes und eine hypothetische Rekonstruktion der Partien, die zwischen den erhaltenen Abschnitten standen, wobei natürlich die genaue Festlegung der Zeilenübergänge und der Grenzen zwischen den Kolumnen nicht mehr möglich ist. Bei der Wiederherstellung des Textes verwende ich in der Regel die abgekürzten Formen der nomina sacra, da der Kopist, wie die Schreibung κ(ύριο)ς in Z. 75 zeigt, die nomina sacra abkürzt. Die vorgeschlagene Rekonstruktion vermittelt einen Eindruck von dem Layout der verlorenen Teile und erlaubt uns, die Dimensionen des originalen Blattes annäherungsweise zu berechnen. Nimmt man die besser erhaltene Fleischseite als Basis für die Berechnung (auf sehr ähnliche Ergebnisse kommt man auch mit dem Text der Haarseite), dann stellt man fest, dass nach dem Rekonstruktionsversuch zwölf Zeilen zwischen der ersten und der zweiten Kolumne der Fleischseite fehlen. Da die erhaltenen zwölf Zeilen der zweiten Kolumne der Fleischseite in ca. 6 cm untergebracht worden sind, ist für die verlorenen zwölf Zeilen ebenfalls mit ca. 6 cm zu rechnen. Wenn man dazu ca. 2 cm für den oberen und ca. 3 cm für den unteren Rand des Blattes veranschlagt, kommt man auf eine Höhe von ca. 17 cm für das gesamte Pergamentblatt. Rechnet man ferner mit einem linken und rechten Rand von jeweils ca. 1,5 cm und beachtet, dass die Zeilen eine Breite von ca. 3,5–4 cm pro Kolumne aufweisen und der Raum zwischen den Kolumnen ca. 1 cm breit ist, dann kommt man auf eine Breite des Originalblattes von ca. 11–12 cm, die bemerkenswert klein für einen Codex ist, der zwei Kolumnen hat. Zu Parallelen für Codices mit Dimensionen von ca. 17 ´ 11–12 cm s. E. G. Turner, The Typology of the Early Codex (Haney Foundation Series 18), Philadelphia, PA 1977, 29 (XII).

3 λ]ι̣μο̣ῦ: Von ι sind nur wenige Spuren erhalten.

ἐ̣[κ]: Nur kleine Spuren vom unteren rechten Teil des ε sind zu sehen.

4 [θαν]ά̣τ̣ο̣υ: Vom α sind nur Spuren von seinem unteren rechten Teil erhalten.

5 [ἐκ]δ̣ι̣η̣γ̣ῶ̣ν̣τ̣α̣ι̣: Das Pergament ist gespalten und zum Teil leicht verzogen, so dass der Eindruck entsteht, dass γων höher als ται steht. In der Tat gehören beide Buchstaben­reihen­folgen aber zu ein und derselben Zeile und zu einem Wort.

14–15 und 48–49 Υἱὲ ἀν(θρώπ)ου: Zu beiden Wörtern als nomina sacra in den Papyri s.
A. H. R. E. Paap, Nomina Sacra in the Greek Papyri of the First Five Centuries A.D. (Papyrologica Lugduno-Batava 8), Lugdunum Batavorum 1959, 88–89, 95–96, 105–106 und 110–112. Da das Wort υἱός in der großen Mehrheit der Parallelen nicht abgekürzt wird, nehme ich an, dass es auch hier ausgeschrieben stand.

25 Das Wort Ἰ(ερουσα)λήμ erscheint in den Papyri sowohl ausgeschrieben als auch als abgekürztes nomen sacrum; vgl. A. H. R. E. Paap, a.a.O., 92 und 106–107. Hier habe ich die abgekürzte Form ergänzt, da sie dem usus scribendi entspricht.

26, 52, 64, 74 Ἰ(σρα)ήλ: Zum Wort als nomen sacrum s. A. H. R. E. Paap, a.a.O., 91 und 106.

58–62 Diese Textpartie scheint in einer etwas kleineren Schrift geschrieben worden zu sein (vgl. z.B. das ω). Mit einem Wechsel des Kopisten ist jedoch kaum zu rechnen, da sowohl die Haarseite als auch die zweite Kolumne der Fleischseite von derselben Hand geschrieben wurden.

77 λ̣α̣[λ]ήσω̣: Das Pergament ist verzogen (vgl. oben den Komm. zu Z. 5), so dass der Eindruck entsteht, ησω̣ stünde höher als λ̣α̣.

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Institut für Klassische Philologie
Philosophische Fakultät
Universität Athen
Panepistimiopolis Zographu
15784 Athen, Griechenland
papath@phil.uoa.gr

Institut für Alte Geschichte und Altertumskunde
Papyrologie und Epigraphik
Universität Wien
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1010 Wien, Österreich
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Amphilochios Papathomas

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Tafel 14



* Der Aufsatz ist im Rahmen eines Lise-Meitner-Programms (M 1677-G21) des österreichischen Wissenschaftsfonds FWF (Austrian Science Fund) entstanden. Alle Daten ver­stehen sich n. Chr., wenn nicht anders angegeben.

[1] Im Folgenden steht TM für die Datenbank „Trismegistos“ (http://www.trismegistos.org/); LDAB für die Datenbank Leuven Database of Ancient Books ( http://www.trismegistos.
org/ldab/
) und Rahlfs, Fraenkel für den Katalog: A. A. Rahlfs, D. Fraenkel, Verzeichnis der griechischen Handschriften des Alten Testaments I.1: Die Überlieferung bis zum VIII. Jahrhundert (Septuaginta. Vetus Testamentum Graecum I.1), Göttingen 2004.

[2] Siehe http://www.uni-koeln.de/phil-fak/ifa/NRWakademie/papyrologie/PTheol1.html.

[3] Dieser Papyrus wird auch im Katalog von M. Naldini, Documenti dell’antichità cristiana esposti nella Biblioteca Medicea Laurenziana, Firenze, 6–30 Giugno 1964, Firenze 1964, Nr. 28 erwähnt.

[4] Hierzu und im allgemeinen zum Inhalt der Einzelblätter des Papyruscodex 967, die Textpartien aus dem Buch Ezechiel enthalten, s. K. Aland, a.a.O., 206–207 und P. L. G. Jahn, Der griechische Text des Buches Ezechiel nach dem Kölner Teil des Papyrus 967 (Papyrologische Texte und Abhandlungen 15), Bonn 1972, 9–13.

[5] Vgl. etwa die Pergamente LDAB 3341 (Ezechiel 36–37, 41–43, 47; Mesopotamia–Zouqnin; 6. Jh.); LDAB 3435 (Ezechiel 1–48; Mesopotamia–Zouqnin; 7./8. Jh.); LDAB 9227 (Ezechiel 6, 10, 15, 16, 22, 24, 25, 30, 39, 40, 44, 48; Grottaferrata; 8./9. Jh.); LDAB 10659 (Ezechiel 4–5; 21; 28–29; 39–40; Europa; 6. Jh.); LDAB 128505 (u.a. Fragmente aus dem Buch Ezechiel; Ort unbekannt; 8. Jh.).

[6] Vgl. etwa das von L.-Th. Lefort, Les manuscrits coptes de l’Université de Louvain I. Textes littéraires, Louvain 1940, Nr. 11 edierte Pergament (Ezechiel 20, 41–49; 5./6. Jh.; LDAB 107998; Text auf Sahidisch) und die Ostraka P.Mon.Epiph. 31 (Ezechiel 3, 4–18; 7./8. Jh.; LDAB 112707) und P.Mon.Epiph. 32 (Ezechiel 37, 1–14; 7./8. Jh.; LDAB 112417; beide Texte Sahidisch).

[7] Beispielsweise ChLA VII 916 (5. Jh.); ChLA IX 1420 (5. Jh.); ChLA VI 799 = X 799 (S. 38) (6. Jh.); ChLA III 307 (7. Jh.); ChLA V 522 (7./8. Jh.); ChLA VII 899 (760–781); ChLA IX 1292 (8. Jh.); ChLA IX 1337 (8. Jh); ChLA X 1499 (8. Jh.); ChLA VII 1008 (8./9. Jh.).

[8] Vgl. z.B. folgende Trismegistos-Einträge (alle Texte sind Pergamente): TM 117840 (5./6. Jh.); 115499 (6. Jh.); 115452 und 116114 (6./7. Jh.); 115500 (7. Jh.); 115270 und 129902 (7./8. Jh.); 115501 und 115514 (8. Jh.); 116135 und 117835 (8./9. Jh.).