J A N A G R U S K O V Á — G U N T H E R M A R T I N


Zum Angriff der Goten unter Kniva auf eine thrakische Stadt
(Scythica Vindobonensia, f. 195v)

Tafeln 9–11



Auf einem der vier Blätter der sog. Scythica Vindobonensia – der neuen Fragmente zur Goteninvasion ins römische Reich in der Mitte des 3. Jh. n. Chr., die im palim- psestierten Teil des Codex Hist. gr. 73 der Österreichischen Nationalbibliothek entdeckt wurden [1] und die höchstwahrscheinlich aus den Skythika des griechischen Historikers Dexippos aus Athen (3. Jh. n. Chr.) stammen[2] – ist eine bisher unbekannte Beschrei- bung eines gotischen Angriffs unter dem βασιλεύς Kniva auf eine Stadt in der Provinz Thracia überliefert. Das mit diesem Blatt, f. 195, zu ein und demselben originalen Doppelblatt gehörende f. 194 enthält wiederum eine sonst nicht belegte Schilderung der Ereignisse aus dem Gotenkrieg des Kaisers Decius nach dem (wohl ins Jahr 250 n. Chr. zu datierenden) Fall von Philippopolis, heute Plovdiv in Bulgarien.


Der auf f. 194rv enthaltene Text sowie die Rectoseite von f. 195 wurden bereits in einer Arbeitstranskription mit den ersten Interpretationsvorschlägen und Überlegungen zu den möglichen Zeitverhältnissen der dargestellten Ereignisse veröffentlicht.[3] Der vorliegende Beitrag präsentiert nun zum ersten Mal das auf der Versoseite von f. 195 erhaltene Textstück, in dem die auf f. 195r enthaltene Schilderung des oben genannten gotischen Angriffs unter Kniva auf die – im Text namentlich nicht konkret genannte – thrakische Stadt unmittelbar fortgesetzt wird.

Die folgende Transkription präsentiert den aktuellen Stand der Textentzifferung von f. 195v. Das Gelesene stützt sich vor allem auf die Auswertung des speziellen Bildmaterials, das als Ergebnis einer im Jahre 2013 durch das technische Team der Early Manuscripts Electronic Library (EMEL) durchgeführten multispektralen Digita- lisierung des Palimpsests[4] und eines in mehreren Arbeitsphasen angewendeten spe- ziellen „image processing“ (Bildverarbeitung zur Lesbarmachung des getilgten Textes) durch die „image scientists“ Roger Easton, William Christens-Barry, Keith Knox und David Kelbe vorliegt (vgl. Tafeln 9–10).[5]

Im Gegensatz zu der sehr gut lesbaren und weitgehend entzifferten Rectoseite von f. 195,[6] der Fleischseite des betreffenden Pergamentblattes, ist die Entzifferung von f. 195v nicht nur dadurch erschwert, dass es sich um die Haarseite des Pergaments handelt, sondern auch durch die Tatsache, dass der Codex offensichtlich seit dem 13. Jh. mit dieser Seite endete und dass sie infolgedessen heute unter Wasser-, Schmutz- und Tintenflecken leidet. Ein großer Vorteil war hingegen das Faktum, dass diese Seite nach der Palimpsestierung bis auf die Kaufnotiz des Augerius von Busbeck,[7] der den Codex im 16. Jh. in Konstantinopel erworben hat („Auger. de Busbecke comparavit Constantinop.“), und bis auf den Stempel „Bibliotheca Palat. Vindobonensis“ unbe- schrieben geblieben ist (vgl. Tafel 11).

Der entzifferbare Text auf f. 195v gibt einen quasi vollständigen Überblick über den Textinhalt und enthält wichtige Informationen, nicht zuletzt im Hinblick auf eine mögliche Identifizierung der angegriffenen thrakischen Stadt. Die folgende work-in- progress-Transkription mit einer Arbeitsübersetzung und mit ersten Überlegungen zum Text und die beigelegten Spezialaufnahmen sollen den interessierten Forschern einen ersten Zugriff auf das neue Material ermöglichen. Darüber hinaus erhoffen sich die Autoren, eine Diskussion anzustoßen, die später in eine vollständige Edition des Palimpsests und eine detailliertere Betrachtung des Textes selbst (Sprache, Stil, usw.) und seines Inhalts einfließen soll. [8]

Die Sicherheit, mit welcher der Text in der folgenden Transkription ausgewiesen wird, schwankt.[9] Die Orthographie und die Interpunktion werden getreu (d.h. so, wie sie in der Handschrift vorliegen) wiedergegeben[10] und nicht den abweichenden mo- dernen Konventionen angepasst, [11] die Worttrennung wird jedoch konsequent durch- geführt. Akzente, Spiritus und Satzzeichen werden nur dann transkribiert, wenn sie sich auf den Aufnahmen erkennen lassen. Silbentrennung am Zeilenende wird leser- freundlich durch Trennstriche angezeigt. Kürzungen werden (in runden Klammern) aufgelöst. Ein unter den Buchstaben gesetzter Punkt soll darauf hinweisen, dass die erkennbaren Tintenreste keine sichere Identifizierung des originalen Buchstabens erlau- ben; ähnliches gilt auch für die Kürzungen und für die Interpunktion. Immer dann, wenn die auf den uns zur Verfügung stehenden Aufnahmen sichtbaren Tintenreste (und der Kontext) nicht ausreichen, um einen Buchstaben einigermaßen zuverlässig zu rekonstruieren, wird dieser Buchstabe durch ein Sternchen * ersetzt.[12]

An jenen Stellen, an denen die Entzifferung des getilgten Textes beim jetzigen Stand der Lesbarkeit Schwierigkeiten bereitet, ist nicht nur der Wortlaut, sondern auch die Bedeutung nicht eindeutig auszumachen. Die im Folgenden gegebene Überset- zung hat daher einen provisorischen Charakter; eine zukünftige Änderung des Sinnes an den problematischen Stellen – wobei die momentan unverständlichen oder sehr unsicheren Stellen durch drei Punkte markiert bzw. kursiv gedruckt sind – lässt sich nicht ausschließen. Einiges wird in den anschließenden Anmerkungen näher behandelt.

Um den Sinnkontext des Fragments auf f. 195v besser zu verstehen, seien hier

zuerst die letzten Worte von f. 195r wiederholt (für die ganze Seite s. den Anhang):[13]

f. 195r, Z. 29–30: … ἄθλα[14] δὲ ἦν παρὰ τοῦ βαcιλέωc. τῶ μὲν | πρώτω ἀνελθόντι;

πεντακόcιοι δαρεικοὶ· δευ-||

Folio 195v untere Schrift (Tafeln 9–10)

Übersetzung (f. 195r, Z. 29 bis f. 195v, Z. 30):

„… Vom König wurden Belohnungen ausgesetzt: für den ersten, der hinaufsteigen würde, 500 Dareikoi, für den zwei||ten 300, und für den dritten nach diesem …, und für die übrigen [scil. zwei Männer] ebenso.[15]

Als sie [scil. die fünf Freiwilligen des Vorauskommandos] nun auf dem Marsch bei Mondschein in der Nähe [scil. der Mauer] waren und zum einen die Trunkenheit der Leute in der Stadt fortgeschritten war und es zum anderen tiefe Nacht geworden war, da nahmen sie die Mauer dort in Angriff, wo der Informant sie anwies. Die … Mauer im Bereich der Stadionlaufbahn war, da sie auf einem Felsen niedrig gebaut war, nicht überall …, und sie stießen auf eine nicht ganz ausreichende Bewachung. Indem sie an eben diesem Felsen hinaufkletterten und in das Mauerwerk an vielen Stellen spitze Eisenstifte einschlugen, damit ihnen …, übersteigen sie [scil. die Mauer] und dringen [scil. in die Stadt] ein. Und nachdem sie die Wachen nieder- gemacht hatten (es waren nicht allzu viele Männer, und darüber hinaus waren sie vom Schlaf übermannt), h eben sie für ihre Kameraden eine Fackel als Zeichen, dass sie die Mauer überstiegen haben.

Daraufhin zogen die Männer um Kniva – ungefähr 500 Mann, die aus den Wehr- haftesten ausgewählt waren, – sehr ermutigt, nachdem sie nämlich das Signal verstan- den hatten, mit langen Leitern los. Als sie nahe waren und als beim Anlegen der Leitern an die Mauer Lärm entstanden war und diejenigen [scil. Thraker], die in der


Nähe waren, wahrgenommen hatten, was geschah, da sammelten sich die Thraker, die weiter entfernt waren, zur Abwehr. Und diejenigen Barbaren, die als erste hinaufge- stiegen waren, besetzen die Zugänge zu den Türmen; diese [scil. Zugänge] waren eng und für eine Menschenmenge nicht leicht zu passieren, so dass sie kaum zwei in Front aufgestellten Schwerbewaffneten Platz boten, und so hielten sie die Herankommen- den fern und || …“

Anmerkungen:

Einen ausführlichen Kommentar zu einzelnen Textstellen (samt einer detaillierten paläographischen Analyse) wird die vollständige Edition des Palimpsests enthalten. Im Folgenden werden nur einige erklärende Anmerkungen zu textlichen und sprach- lichen Schwierigkeiten sowie zu den schlecht lesbaren Stellen gegeben.[16] Der hier gedruckte Text steht bei all diesen Erklärungen unter dem Vorbehalt korrekter Ent- zifferung. Zu den Graden der Unsicherheit s. oben.

F. 195v[17] Z. 1–2 τοῦτ(ον) | ***τον: Das Ende von Z. 1 und der Beginn von Z. 2 sind schlecht lesbar. Von τοῦτ(ον) ist nur το (und nur auf wenigen Bildern) zu sehen; der dritte Buchstabe könnte ein Ypsilon mit Zirkumflex (?) oder eventuell ein Ny sein; das zweite Tau wie auch der Kürzugsstrich sind sehr unsicher. In Z. 2 ist vor dem relativ klar lesbaren τον ein Platz für ca. drei Buchstaben vorhanden; die schlecht erkennbaren Reste der Schrift erlauben keine Transkription. Inhaltlich wäre εκατον denkbar; oberhalb von -τον sind keine Reste eines Gravis zu sehen.

Z. 2–3 ἐπει δὲ πο|ρευόμενοι: Der Anfang des neuen Sinnabschnittes ist durch am Beginn der ersten vollständigen Zeile nach links ausgerückt gesetzte Buchstaben Rho und Epsilon hervorgehoben, wobei es sich hier nur um – die Funktion einer Initiale übernehmende – übliche Textbuchstaben handelt (ähnlich wie das nach links ausge- rückte My in Z. 2 von f. 193r). Vgl. die Initiale Epsilon in Z. 17.

Z. 3 ἦcαν ist als ἦσαν (eher als ᾖσαν) zu lesen; vgl. z.B. Hdt. VIII, 37.
Z. 4 ἀcτεωc: Es lässt sich nicht entscheiden, ob ω oder ο (f. 195r, Z. 17) zu lesen ist. Z. 5–6 τῶ τει|χει und Z. 22 τῶ τείχει bzw. Z. 6–7 τὸ … τείχιcμα und Z. 11 τοῦ τειχίcματοc (vgl. f. 195r, Z. 22 τοῦ τειχίcματοc): Es ist fraglich, ob der Autor zwischen

den beiden Begriffen inhaltlich differenzieren wollte.

Z. 6 καθότι ὁ ἐνδιδουc cφίcιν ἐξηγεῖτο: ὁ ἐνδιδουc – der Informant, der Über- läufer, nämlich der Mann, der die Stadt durch Verrat übergab (oder übergeben wollte: das substantivierte Partizip Präsens könnte vielleicht auch als de conatu interpretiert werden): vgl. Thuc. IV, 66, 3 βουλόμενοι ἐνδοῦναι τὴν πόλιν. Laut f. 195r, Z. 21ff. ist der Überläufer wohl wieder in die Stadt zurückgekehrt und hat von dort aus die fünf Mann des Vorauskommandos zu der Schwachstelle in der Mauer dirigiert, wozu gut das Imperfektum ἐξηγεῖτο in Z. 6 der Versoseite passt.


Z. 6–13: Die Syntax dieser Zeilen ist schwer zu rekonstruieren, da die Lücken am Beginn von Z. 7, 9, 10 und am Ende von Z. 12 und die unsicheren Buchstaben ein abschließendes Urteil verhindern. Wenn am Ende von Z. 6 die Partikel δὲ steht (vgl. unten zu Z. 6–7), so zeigt dies dass hier ein neuer Abschnitt beginnt. Inhaltlich lassen sich (vorbehaltlich der Lücke in Z. 9) zwei grobe Abschnitte erkennen: Zunächst wer- den in Z. 6–10 die Gegebenheiten beschrieben: ein Fels, darauf eine niedrige Mauer und darauf eine mangelhafte Bewachung. Bei jedem dieser Punkte wird (vorbehaltlich eines entsprechenden Wortlauts am Beginn von Z. 9) darauf hingewiesen, dass er kein allzugrosses Hindernis für die Goten darstellte. In Z. 10–13 wird die eigentliche Handlung erzählt, nämlich die Ersteigung von Fels, das Übersteigen der Mauer und das Eindringen in die Stadt (in Z. 13–15 folgt dann die Beseitigung der Wachen).

Syntaktisch wäre der Befund so umzusetzen, dass die beiden Abschnitte zwei Einheiten darstellen: Z. 6–10 bilden einen zusammengesetzten Satz, der mit τὸ δε … τείχιcμα beginnt und mit καὶ … ἐπετύγ|χαν** fortgesetzt wird; es könnte sich dabei um eine Erklärung zu der Schwachstelle in der Verteidigung handeln. δή in Z. 10 markiert dann (gemäß Dexippos’ Sprachgebrauch) den Beginn eines neuen Satzes, dessen Verben ὑπερβαίνουcι und παρίαcιν (Z. 13) sind.

Am einfachsten wäre es anzunehmen, dass in ***ατο* am Beginn von Z. 9 (nach οὐ πάντη in Z. 8) eine finite Verbform zum Subjekt τὸ τείχιcμα vorliegt: ἦν ἄβατον (3. pers. pl. zum Subjekt „die fünf Freiwilligen“ mit τὸ τείχιcμα als Objekt ließe sich schwierig mit πάντη bzw. mit der Kombination ατο vereinbaren). Die schlecht lesba- ren Buchstabenreste haben jedoch bisher keine plausible Entzifferung dieser Stelle er- laubt. χθα|μαλον (Z. 7–8) könnte als prädikative Ergänzung zu ωκοδομημενον (Z. 8) verstanden werden: „Die Mauer im Bereich der Stadionlaufbahn war, da sie auf einem Felsen niedrig gebaut war, nicht überall unübersteigbar.“ Falls in Z. 9 keine finite Verbform vorliegt, könnte der erste Teil des Satzes elliptisch erklärt werden: τὸ δε … τείχιcμα (scil. ἦν) χθα|μαλον: „Die Mauer … war niedrig, gebaut auf einem Felsen (d.h.

„da sie … gebaut war“).“ Am Beginn von Z. 9 wäre dann an ein Adjektiv zu denken, das sich entweder auf die Mauer als eine weitere Eigenschaft (τείχισμα … -ατον) oder auf den Fels (πέτρας … -άτου: „Felsen, der nicht überall unübersteigbar war“) bezieht.

Die letzten zwei Buchstaben von ἐπετύγ|χαν** (Z. 9–10) sind nicht klar zu sehen: Der letzte könnte ein Ny sein, der vorletzte ein Omikron, doch ein Minuskelepsilon lässt sich nicht ausschließen. Wäre hier ἐπετύγ|χανον (3. pers. pl. impf.) zu lesen, läge in καὶ φρουρᾶc οὐ μάλα αρκούcηc ἐπετύγ|χανον die Kontinuität des Subjekts von προcέβαλλον in Z. 5 (nämlich „die fünf Freiwilligen“) vor.[18] Für ἐπιτυγχάνω mit Ge- nitiv in der Bedeutung „fall upon, meet with“ (LSJ s.v. II) vgl. z.B. Prokop Bell. VIII,

9, 24 ἀνακεκλιμένης ἔτι ἐπιτυγχάνουσι τῆς ταύτῃ πυλίδος. Die Übersetzung wäre also: „und sie stießen auf eine nicht ganz ausreichende Bewachung“. So könnte es scheinen, dass die Erzählung im folgenden Satz (Z. 10–13) einen Schritt zurück macht (von den Wachen auf der Mauer zurück zur Ersteigung des Felsens); wenn man aber


καὶ φρουρᾶc … ἐπετύγ|χανον als eine Fortsetzung der Erklärung der Gegebenheiten (Z. 6ff.) ansieht und nicht als Teil der Handlung interpretiert, dann schließt die Erzählung in Z. 10 direkt an Z. 6 an und die narrativen Unebenheiten fallen weg. Für ἐπετύγχανεν (3. pers. sg.) mit einem sachlichen Subjekt, hier: τὸ … τείχιcμα, haben sich bisher keine passenden Erklärungen mit entsprechenden Parallelen gefunden.

Z. 6–7 τὸ δε | *** κατὰ τὸν τοῦ cταδίου δρόμον· τείχιcμα: δε am Ende von Z. 6 ist wahrscheinlich als „δὲ“ zu verstehen; der Schatten oberhalb von Epsilon könnte gut zu einem Gravis passen. Da δὲ in dem Palimpsest, soweit sich bisher erkennen ließ, nicht elidiert wird, kann δ’ ἐ-/ἑ- eher ausgeschlossen werden. Das nächste Wort nach δὲ kann sowohl mit einem Konsonanten als auch mit einem Vokal beginnen. Sollte sich oberhalb von Epsilon doch kein Gravis befinden, so handelt es sich um ein mit δε- beginnendes, in Z. 7 fortgesetztes Wort. Am Beginn von Z. 7 (vor κατὰ) steht ein Raum für ±3 Buchstaben zur Verfügung; die lesbaren Reste des ersten Buchstabens könnten zum oberen Strich eines Minuskelepsilon bzw. eines Minuskeleta bzw. eines Minuskelkappa gehört haben, doch ist zu wenig lesbar, um zuverlässig zu rekon- struieren. Denkbar wären an der Stelle etwa eine Verstärkung der Ortsangabe, z.B. τὸ δὲ ἐκεῖ, oder (sprachlich nach δὲ eher problematisch) γὰρ.

Z. 10 αναριχόμ(εν)οι: sic (lies ἀναρριχώμενοι; vgl. LSJ s.v. ἀναρριχάομαι „to clamber up with the hands and feet“, „scramble up“); εν ist mit dem üblichen Kür- zungsstrich geschrieben, οι in Supraposition.

Z. 11–12: κατα τοῦ τειχίcματοc cίδηρον οξυν κατα|πηγνυντεc πολλαχη: wörtlicher

„an dem Mauerwerk an vielen Stellen ein spitzes Eisen … befestigten“. Zu möglichen Details dieser Klettertechnik sind noch Untersuchungen durchzuführen; bessere Kennt- nisse könnten dann eine genauere Übersetzung ermöglichen.

Z. 12–13: ωc cφιcιν το*********|ναι: „damit ihnen …“ („wie ihnen …“)? Die Stelle ist – vor allem wegen der darüber geschriebenen Kaufnotiz – kaum lesbar; die hier gedruckten Buchstaben sind daher sehr unsicher; am Ende von Z. 12 ist zu wenig zu erkennen, um eine einigermaßen zuverlässige Rekonstruktion anzubieten.

Z. 15–16 αιρουcι πυρc(ὸν) | τοῖc φιλίοιc. τῆc ὑπερβάcεωc δήλωμα εἶναι: Der Dativ τοῖc φιλίοιc bezieht sich grammatikalisch eher auf αἴρουcι πυρcὸν (vgl. f. 195r, Z. 23f.), sinngemäß auch auf das folgende τῆc … εἶναι.

Z. 17 επὶ δὲ τούτω: Der Anfang des neuen Sinnabschnittes ist durch eine nach links ausgerückt gesetzte, etwa zweizeilige Initiale Epsilon hervorgehoben (s. Tafeln

9–10). Vgl. Z. 3. – Ἐπὶ δὲ τούτῳ ist ein gängiger Satzanschluss, der in seiner Bedeu- tung von einer rein temporalen Abfolge bis hin zu einer kausalen Verknüpfung reicht.

Z. 17–20 οἱ ἀμφὶ τὸν κνίβαν … | … ἀνδρεc | πεντακόcιοί που μάλϊcτα ἐπίλεκτοι εκ τῶν | ἀλκιμωτάτων: Die Formulierung οἱ ἀμφὶ τὸν Κνίβαν lässt darauf schließen, dass Kniva sich wohl selbst in dieser Gruppe befindet; im militärischen Kontext ist es bei οἱ ἀμφὶ τὸν … wahrscheinlich, dass die betreffende Person eingeschlossen ist und dass es sich um das Gefolge bzw. die am nächsten stehenden Kämpfer handelt (vgl. z.B. Xen. A. I, 8, 27); hier also „Kniva und sein Gefolge“. Es handelt sich hierbei wahrscheinlich nicht um eine Art Elitetruppe aus dem Gesamtheer, sondern eher um die unmittelbare Gefolgschaft des Kniva. Es lässt sich in Analogie zu anderen ger- manischen Kriegergruppen annehmen, dass Knivas Gesamtheer durch den Zusammen-


schluss mehrerer Gefolgschaften entstanden ist, d.h. kleinerer Gruppen, jeweils mit einem eigenen Führer, die sich wiederum einen obersten Anführer wählten,[19] hier also Kniva, der dann das Oberkommando über diese alle hatte: [20] vgl. f. 195r, Z. 25. Auch wenn sich nicht ausschließen lässt, dass er hier (f. 195v, Z. 17ff.) seine Gefolgschaft vorausgeschickt hat, wäre aufgrund des Gesagten eher anzunehmen, dass er persön- lich beteiligt war. Sein persönlicher Einsatz in diesem Stroßtrupp würde – falls es sich, wie vermutet, um Philippopolis handelt – zudem besser erklären, warum er nach der Einnahme der Stadt in so hohem Ansehen bei den Goten stand, dass sie ihn, wie es auf f. 194r, Z. 19–22 heißt, priesen und besangen (mehr dazu unten). Zu ἀλκιμώτατοι vgl. f. 195r, Z. 2 (s. den Anhang).

Z. 17–18 πολὺ επιρρω|cθέντεc, καὶ cυνέντεc τοῦ cυνθήματοc: καὶ könnte als ex- plikativ verstanden werden: Sie – d.h. οἱ ἀμφὶ τὸν Kνίβαν – erkennen das Signal und seine Bedeutung und werden so ermutigt.

Z. 20–21 κλίμακαc ἁμα cφιcι | μεγαλαc φέροντεc: Von den drei aus den Skythika

erhaltenen Belagerungsschilderungen sind Leitern nur beim Angriff auf Philippopolis erwähnt (Dexippos F 27.2 J = F 24.2 Martin = F 30.2 Mecella). [21]

Z. 23–24 καὶ αιcθηcιc ἐνεπεπτώκει τοῖc ἐφ|εξῆc. οι ἀπωθεν των θρακῶν …: Die Erzählung ist stark verdichtet und unterscheidet zwei Gruppen von Thrakern, in der Nähe bzw. in größerer Entfernung. Nicht erwähnt ist ein Signal der ersten Gruppe an die zweite.

Z. 25–27 οἱ προανελθόντεc | τῶν βαρβάρων· τὰc παρόδουc ταc ειc τουc | πύργουc φερούcαc, καταλαμβάνουcιν: Diejenigen Barbaren, die vorausgeklettert waren, besetzen die Zugänge zu den Türmen. Vermutlich handelt es sich um die ersten fünf, eventuell auch die ersten der größeren Gruppe. Zum Präfix von προανελθόντεc vgl. LSJ s.v. προέρχομαι I.5: „go before or first“, d.h. vor anderen.

Z. 27–29 αἱ δε | ἦcαν cτεναὶ καὶ πληθει οὐκ εὔποροι· ὡc μόγιc | ὁπλιταc δύο· ἐπὶ μετώπου τεταγμένουc δέξ***: Beim letzten Wort, dessen zweiter Teil sich gar nicht erkennen lässt und daher durch Sternchen ersetzt ist, scheint eine Rekonstruktion zu δέξαcθ(αι) plausibel; für die Kürzung der Endung -cθαι vgl. f. 192v, Z. 18 ὁπλίcα- cθ(αι) . – ἐπὶ μετώπου: wird als militärischer Fachbegriff für die Ausrichtung „in Front“ bzw. „frontal“ (im Gegensatz zu ἐπὶ κέρως „in Kolonne“) verwendet: vgl. Xen. Cyr. II, 4, 2–3, Luc. hist.conscr. 29 und 37. [22] Hier könnte ἐπὶ μετώπου als „neben- einander“ interpretiert werden.

Zum Inhalt des Fragments (f. 195v)[23]

Die neue Seite (f. 195v) führt die Erzählung von f. 195r fort; es gibt keine räum- lichen oder zeitlichen Sprünge. Wir finden uns also weiterhin bei dem Angriff auf eine thrakische Stadt durch Truppen unter dem gotischen Anführer Kniva. Die Ver- teidigung der Stadt ist geschwächt, da die Bewohner nicht mehr mit einem Angriff rechnen, feiern, und es auch zu internen Verwerfungen gekommen ist (vgl. f. 195r, Z. 9–14 und f. 195v, Z. 4). Die Mauer der Stadt, von der sich die – hier als „Skythen“ bezeichneten[24] – Goten zuerst zurückgezogen haben (vgl. f. 195r, Z. 2ff.), wird jetzt von einer Handvoll Krieger erstiegen und dies wird das Eindringen einer größeren Schar in die Stadt ermöglichen.

Das Vorauskommando von fünf Freiwilligen, die von Kniva nachts ausgeschickt wurden, um das auszukundschaften, was (scil. von dem Verräter) mitgeteilt worden war, und das arrangierte Komplott ins Werk zu setzen (vgl. f. 195r, Z. 24ff.), schleicht sich in der Nacht unbemerkt an die Mauer, klettert mit Hilfe spitzer Eisenstücke, die es im Mauerwerk befestigt, hinauf, dringt in die Stadt ein (f. 195v, Z. 2–13) und schaltet die wenigen Wachen aus (Z. 13–15). Anschließend geben sie den Goten, die vor der Stadt warten, das verabredete Zeichen (Z. 15–16). Der Verräter von innerhalb der Stadt hat also korrekt Angaben zu der Stelle gemacht, wo die Mauer das geringste Hindernis darstellt (vgl. f. 195r, Z. 16–24, besonders Z. 22–23). Ein neues Detail ist die schlechte Bewachung der genannten Stelle (f. 195v, Z. 9 und Z. 14–15).

Die ca. 500-köpfige gotische Gruppe wird wahrscheinlich von Kniva selbst an- geführt (vgl. oben die Anmerkungen zu Z. 17–20). Sie nähert sich auf das Signal hin der Mauer (Z. 17ff.), legt lange Leitern an, wird aber durch den entstehenden Lärm von den Thrakern bemerkt, und ein Kampf bahnt sich an (Z. 21–25). Diejenigen Goten, die als erste hinaufgestiegen waren – vermutlich handelt es sich um die ersten fünf, eventuell auch die ersten der größeren Gruppe (vgl. oben die Anmerkungen zu Z. 25–27) – sichern die engen, nicht leicht passierbaren Zugänge zu den Türmen auf der Stadtseite (Z. 25ff.). Das Textfragment bricht ab, bevor sich der Kampf entfaltet und der Leser Gewissheit darüber erhält, ob die Stadt – wenn sie überhaupt bei diesem Angriff fiel – von dieser ca. 500-köpfigen Truppe eingenommen wurde oder ob diese Männer lediglich das Eindringen des restlichen Teils von Knivas „Armee“, d.h. der gesamten Kriegergruppe unter Knivas Oberkommando, ermöglichten.

Zum historischen Kontext (f. 195)

Der hier zum ersten Mal präsentierte Text, f. 195v, ist Teil der Erzählung eines Strategems. Er setzt die Beschreibung von f. 195r, d.h. der Rectoseite desselben Blattes, fort und liefert Hinweise von weiterer Tragweite zu den Ereignissen:


Die Stadt, gegen die der Eroberungsversuch gerichtet ist, ist auf keiner der beiden erhaltenen Seiten namentlich genannt, erneut wird aber bestätigt, dass es sich um eine thrakische Stadt handelt. Die Bezeichnungen Thraker (zu f. 195r, Z. 10 s. nun auch f. 195v, Z. 24) und Skythen (f. 195r, Z. 20) und vor allem die namentliche Nennung eines Gotenanführers Kniva (f. 195r, Z. 20, 25, jetzt auch f. 195v, Z. 17), der (offen- sichtlich) als ὁ βασιλεύς bezeichnet wird (f. 195r, Z. 29),[25] stecken den möglichen zeitlichen und geographischen Rahmen der Ereignisse ab:

Kniva wurde laut Jordanes (Get. 101–103) gegen 250 Gotenkönig und ist sicher belegt als Widersacher des Kaisers Decius (249–251); möglicherweise fällt er erst etwa 20 Jahre später um 271 gegen Kaiser Aurelian (270–275).[26]

Thrakien litt in dieser Periode besonders stark unter den wiederholten Einfällen der Goten zusammen mit anderen im nördlichen Schwarzmeerraum wohnenden Stäm- men, bis zu den Siegen des Gallienus und des Claudius II. Gothicus am Ende der

260er Jahre.[27]

Im Zusammenhang mit der ersten Welle dieser Einfälle, zu der es um das Jahr 250 kam, berichten unsere Quellen von Angriffen auf vier Städte: Novae, Nikopolis, Philippopolis und möglicherweise Markianopolis.[28] Allerdings können davon aber nur


die Bewohner von Philippopolis als Θρᾷκες bezeichnet werden, da nur diese Stadt damals in der Provinz Thracia lag.[29] Philippopolis war als Hauptstadt dieser Provinz reich und daher ein lohnendes Ziel für die Goten. [30] Nach Jordanesʼ Bericht wurde die Stadt nach einer langen Belagerung durch den gotischen Anführer Kniva eingenom- men: Get. 103 Cniva vero diu obsessam invadit Philippopolim. Diese Einnahme wird ins Jahr 250 bzw. ins Jahr 251 datiert. Kniva als Eroberer von Philippopolis wird auch im Text auf f. 194r belegt (s. unten).

Nach dieser ersten Welle kam es zu weiteren Einfällen nach Thrakien. Von einem dieser späteren Plünderungszüge handelt höchstwahrscheinlich auch der Bericht auf dem anderen Doppelblatt des Wiener Palimpsests, ff. 192+193 (vgl. f. 192v, Z. 1).[31]

Die erhaltenen Quellenberichte – vor allem Georgios Synkellos 466, 1–7 und Historia

Augusta , Gall. 6, 1 – legen für die Datierung der dort geschilderten Ereignisse die Jahre

253/254 oder ca. 262 nahe.[32] Darüber hinaus wurde in Thrakien schließlich auch die große Gotenschlacht des Gallienus geschlagen, nachdem die „Skythen“ offensichtlich Thrakien besetzt hatten (vgl. Zos. I, 39, 1 ἤδη τὴν Θρᾴκην καταλαβόντας). [33]

Bei der Zuweisung des Fragments auf f. 195rv zu einem der innerhalb des oben skizzierten historischen Rahmens unternommenen Goteneinfälle nach Thrakien könnte die Tatsache helfen, dass f. 194, auf dem Ereignisse aus dem Gotenkrieg des Kaisers Decius beschrieben werden und auf dem die Einnahme von Philippopolis mehrmals erwähnt ist,[34] mit f. 195 ein echtes Pergamentdoppelblatt bildet. [35] Die beiden Blätter müssen daher im Codex des 11. Jh., dem die historischen Fragmente entstammen, zu ein und derselben Lage gehört haben, höchstwahrscheinlich zu einem Quaternio, d.h. einer Lage von vier Doppelblättern. Dabei ist jedoch aus kodikologischer Hinsicht nicht eindeutig, welches der beiden vorhandenen Blätter innerhalb dieser originalen

Lage das frühere war. Nimmt man als Lage einen üblichen Quaternio mit regelmäßi- ger Abfolge der Fleisch- und Haarseiten (beginnend mit einer Fleischseite) an, so dass jeweils Haarseite (H) gegenüber Haarseite und Fleischseite (F) gegenüber Fleisch- seite liegt, [36] und berücksichtigt, dass der Text von f. 194v nicht unmittelbar auf f. 195r fortgesetzt wird, d.h. die beiden Blätter nicht direkt aufeinander gefolgt sind, kommen drei mögliche Anordnungen in Frage, die in folgendem Schema dargestellt sind: [37]

Aus diesen drei Möglichkeiten lassen sich weitere Schlussfolgerungen ziehen: Wenn die thrakische Stadt auf f. 195rv Philippopolis ist oder eine andere thrakische Stadt, die vor den auf f. 194rv geschilderten Ereignissen von den Goten unter Kniva angegriffen wurde (ohne dass darüber Belege in den Quellen erhalten geblieben wären), würde f. 195rv im originalen Codex dem f. 194rv vorangehen; demnach würde es sich um 1. und 8. Blatt (Aa) oder um 3. und 6. Blatt (Ab) der originalen Lage handeln.[38] Wenn aber der auf f. 195rv geschilderte Angriff auf die thrakische Stadt erst nach den auf f. 194rv beschriebenen Ereignissen stattfand, stand f. 194rv in der origin- nalen Lage vor f. 195rv; es würde sich dann um 2. und 7. Blatt des Quaternio han- deln.[39] Da aus kodikologischer Hinsicht alle drei Möglichkeiten gleich wahrscheinlich sind, muss nach inneren, im Text selbst bzw. in der aufgrund des erhaltenen Bestan- des anzunehmenden Struktur des Werkes enthaltenen Kriterien gesucht werden, die uns der Beantwortung dieser Frage näherbringen können. Dies bedarf einer eingehen-

den Untersuchung aller erhaltenen Textfragmente und wird daher auf einer anderen Stelle ausführlicher behandelt werden. [40] Es liegt aber schon jetzt eindeutig nah, dass der Textumfang von acht Seiten (ca. 1600 Wörtern) bei der Variante B für einen Sprung in die Zeit nach 251 zu wenig Platz lässt.[41] Die Variante A ist daher die we- sentlich plausiblere; der beschriebene Angriff fand also vermutlich vor den auf f. 194rv geschilderten Ereignissen statt. Eine Identifizierung der thrakischen Stadt auf f. 195 mit Philippopolis ist demnach sehr wahrscheinlich.

Auch durch den Inhalt des neuen Textfragments wird die Identifizierung der Stadt als Philippopolis, die auf der Grundlage des Textes von f. 195r nur zurückhaltend vor- geschlagen wurde,[42] bekräftigt, und dies auf mehreren Ebenen:

1) Die topographischen Gegebenheiten, wie sie im Text erwähnt werden, entspre- chen denen, die von Philippopolis (in der Antike wegen seiner drei felsigen Hügel auch „Trimontium“ genannt) bekannt sind:[43] (a) Der Nordteil des Stadions befindet sich in unmittelbarer Nähe zur Stadtmauer; vgl. dazu f. 195v, Z. 6–7 τὸ δε | *** κατὰ τὸν τοῦ cταδίου δρόμον· τείχιcμα. Das Stadion liegt in der Nachbarschaft der Hügel Taksim Tepe und Sachat Tepe, was gut den im Palimpsest beschriebenen Gegeben- heiten entsprechen würde. [44] (b) Zudem erscheint die Formulierung ὁ τοῦ σταδίου δρόμος in der Literatur nur hier und in Dexipposʼ F 26.2 J (= F 23.2 Martin = F 29.2

Mecella): ἐς τὸν τοῦ σταδίου δρόμον (ὃς δὴ εἴσω πόλεως ἦν).[45] Dadurch wäre nicht nur die Identifikation von Philippopolis, sondern auch die Autorschaft Dexipposʼ ge-

stützt. In Dexipposʼ F 26 J (= F 23 Martin = F 29 Mecella), einem längeren Fragment

aus den Skythika,[46] versammelt der Statthalter Priscus die Bevölkerung im Stadion der Stadt Philippopolis, um einen Brief des Kaisers Decius zu verlesen. Dabei wird ex- plizit festgehalten, dass sich das Stadion innerhalb der Stadtmauern befinde, was für Dexippos offenbar außergewöhnlich war. Diese Information erscheint im engeren Kontext des Fragments F 26 J (= F 23 Martin = F 29 Mecella) zunächst funktionslos. Wenn allerdings die Erzählung der Skythika in dem neuen Fragment auf das Wahr- zeichen der Stadt zurückkommt, dann wird klar, dass Dexippos das Detail zur Vorbe- reitung bewusst früh in seiner Erzählung einflicht.

Die Kontinuität mit Dexipposʼ F 26 J (= F 23 Martin = F 29 Mecella) lässt sich auch in der Charakterisierung der Menschen in der Stadt feststellen: Da die Vertei- diger nicht mehr mit einem Angriff rechnen, reißt bei ihnen nach dem scheinbaren Abmarsch der Goten eine gewisse Disziplinlosigkeit ein, so dass sie nicht ausreichend Wache schieben und sich beim Feiern des angenommenen Sieges dem Alkohol hin- geben (zu f. 195r, Z. 8–15 [47] vgl. jetzt auch f. 195v, Z. 4 ὁ πότοc τοῖc τε εἴcω ἀcτεωc προεκεχωρήκει und Z. 14–15 τὸ φυλακικὸν …· ἦcαν δὲ ἄνδρεc | οὐ μάλα πολλοὶ· ὕπνω εχόμενοι). Dies steht im Einklang mit dem Mangel an Zucht und Erfahrung, die Decius in seinem Brief voraussetzt.[48]

2) Der persönliche Einsatz Knivas, der wahrscheinlich selbst die ca. 500-köpfige Truppe der Goten anführt, könnte erklären, warum er nach der Einnahme der Stadt in so hohem Ansehen bei den Goten stand. Auf f. 194r wird nämlich berichtet, wie ein Anführer der Goten (ὁ τῶν cκυθῶν ἄρχων in Z. 17) namens Ostrogotha (?) von der Einnahme von Philippopolis hört; aus dem Folgenden ergibt sich, dass der Eroberer dieser Stadt Kniva ist, dessen Reputation bei den Goten sich erheblich gesteigert hat und der quasi-heroische Ehren genießt (vgl. f. 194r, Z. 19–20 κνίβαν μὲν εν λόγω τω αρίcτω | ἐποιοῦντο· καὶ ἐν ὠδαῖc ἄδοιεν). Ostrogotha, vermutlich ein Rivale Knivas, dessen eigene Tapferkeit bei den Goten angezweifelt wird, plant wegen des durch Knivas Erfolg noch gewachsenen Rechtfertigungsdrucks eine großangelegte Opera- tion, nämlich einen direkten Angriff auf Decius und dessen Armee. [49]

3) Nennenswert könnte in diesem Kontext auch das Faktum sein, dass Decius in seiner „Demegoria“ an die Soldaten auf f. 194v (Z. 16ff.), sagt, die Goten hätten Phi- lippopolis mit Hilfe von Hinterhalten (ἐνέδραιc) eingenommen, nachdem sie bei dem Versuch gescheitert wären, die Stadt in Sturmangriffen zu erobern (ἀπει|πόντεc ταῖc προcβολαῖc).[50] Darin könnte man einen Bezug zum Text auf f. 195rv sehen, nämlich einerseits zum heimlichen Rückzug der Goten sowie zur Attacke im Schutze der

Dunkelheit, andererseits zum Verrat eines Bewohners der Stadt. Decius’ Worte legen außerdem nah, dass Dexippos sowohl die προσβολαί als auch die ἐνέδραι bereits geschildert hat. Dazu fügt sich sehr gut, dass der Text des Fragments auf f. 195rv einen beinahe direkten Anschluss an das Dexippos-Fragment F 27 J (= F 24 Martin = F 30

Mecella), das eine lange Beschreibung einer am Ende nicht gelungenen gotischen Belagerung von Philippopolis enthält, [51] herstellen würde:[52] Vgl. hier besonders den Schlussteil F 27.11 J (= F 24.11 Martin = F 30.11 Mecella) ὡς δὲ πάντῃ ἄποροι τῇ γνώμῃ ἐγίνοντο οἱ βάρβαροι, ἐδόκει ἀναχωρεῖν („Als sich die Barbaren überhaupt nicht mehr zu helfen wussten, beschlossen sie, sich zurückzuziehen“) und den Beginn von f. 195r, Z. 2–8, wo die Goten so tun, als ob sie sich zurückgezogen hätten: προcποιηcάμ(εν)οι | ἀναχωρεῖν; κατέμενον αὐτόθι[·] οὐκ ἀποκνήcαντεc | τὴν δια- τριβήν· καταcκηνήcαντέc τε ὡc ἀφανέ|cτατα· καὶ οὐ πόρρω ἀπαυλιcάμενοι τῶν πο- λε|μίων· ὡc ἐξ ὀλίγου τὴν ἐπιβουλὴν παραcκευα|cθῆναι· ἀπείχοντο δὲ νύκτωρ πῦρ ἀνακαίειν· | δέει τοῦ μὴ κάτοπτοι εἶναι. [53] Im ersten Teil des genannten Dexippos- Fragments, F 27.1 J (= F 24.1 Martin = F 30.1 Mecella), wird auch der Grund des gotischen Angriffs auf Philippopolis und der dort beschriebenen Belagerung genannt: ταύτῃ δὴ οἱ Σκύθαι ὡς ἀρχαιοτάτῃ καὶ μεγίστῃ προσέβαλλον ἐς πολιορκίαν.[54]

Der historische Kontext des Falls von Philippopolis ist umgeben von einer Viel- zahl von Unsicherheiten, die die schlechte Quellenlage mit sich bringt. Einzelheiten der Eroberung waren bislang nicht bekannt, nur dass ihr eine längere Auseinander- setzung vorausgegangen sein muss und dass Kniva vor der Allianz mit Priscus, dem Statthalter, in die Stadt eingedrungen war: Jord. Get. 103Cniva vero diu obsessam invadit Philippopolim, praedaque potitus, Priscum ducem qui inerat sibi foederavit, quasi cum Decio pugnaturum. [55] Aufgrund einer diesbezüglichen Stelle bei Ammianus

Marcellinus lässt sich wieder annehmen, dass diese Eroberung in einem Blutbad endete: XXXI, 5, 17 post clades acceptas inlatasque multas et saevas excisa est Philippopo- lis, centum hominum milibus, nisi fingunt annales, intra moenia iugulatis . Korrespon- diert der Text von f. 195rv mit diesen Berichten?

Aus dem auf f. 195r entzifferten Fragment ist es klar, dass die thrakische Stadt

schon früher – mindestens einmal – von denselben gotischen Truppen angegriffen wurde (s. oben).

In dem Palimpsestfragment scheint der Überläufer aus der Stadt die entscheidende Rolle zu spielen.[56] Er besaß offenbar genaue Kenntnis der Stadt, da er nicht nur die richtige Stelle zum Ersteigen der Mauer zeigen konnte, [57] sondern möglicherweise auch noch wusste, dass die Bewachung nicht ausreichend war (s. oben). Von einem der- artigen Überläufer ist in den übrigen Quellen nie die Rede.

Bei Jordanes wird vielmehr berichtet, der Statthalter und Stadtkommandant Priscus habe sich mit den Goten gegen Decius verbündet und ihnen die Stadt überlassen (loc.cit.; vgl. Aur.Vict. Caes. 29, 2[58]). Wenn also die Stadt als Philippopolis zu identi- fizieren ist und wenn wir annehmen, dass der hier geschilderte Überfall erfolgreich war und sich die Goten in der Stadt festsetzen konnten, so würde es umso klarer, dass Priscus nicht aus einer Position der Stärke heraus agierte.

Denkbar wäre es, dass Kniva mit seiner Gefolgschaft von ca. 500 Männern zuerst in die Stadt vorgedrungen war und Priscus nach Verhandlungen dazu gebracht hatte, sich mit ihm gegen Decius zu verbünden und den Goten die Stadt zu überlassen; in einem solchen Fall könnte man die Stadttore den anderen Teilen der gesamten Krie- gergruppe unter Knivas Oberkommando erst nach diesem Abkommen geöffnet haben, so dass sie ungehindert in Philippopolis Einzug halten konnte.

Die Quellen sind also grundsätzlich miteinander vereinbar, wenngleich eine solche Rekonstruktion selbstverständlich spekulativ bleiben muss. Selbst wenn Widersprüche bestünden, hieße das allerdings nicht, dass die Stadt nicht Philippopolis sein könnte, da eine Verzerrung der Darstellung, gerade bei Jordanes, nicht auszuschließen ist.[59]

Vieles spricht also dafür, dass die thrakische Stadt in dem auf f. 195rv überliefer-

ten, höchstwahrscheinlich Dexippos’ Skythika zuzuschreibenden Fragment Philippo- polis ist und dass es sich um den Beginn eines Angriffs (mindestens des zweiten) bzw. der zweiten Etappe eines Angriffs auf diese Stadt handelt.[60] Ob dieser Angriff der Goten unter Kniva dann bereits der finale war, der zum Fall der Stadt führte, wäre, wie oben gesehen, sehr gut möglich, ist aber aufgrund der aktuellen Quellenlage nicht verifizierbar. Allerdings sprechen sowohl die Ausführlichkeit als auch die Art

und der Inhalt der Darstellung eher für den Fall der Stadt. Die Umstände der Aufgabe der Stadt Philippopolis bleiben weiterhin rätselhaft.

Der vorgelegte neue Text, f. 195v, schließt damit die vorläufige Edition jener Fragmente des Wiener Palimpsests, die sich offenbar mit dem Goteneinfall um das Jahr 250 und dem Gotenkrieg des Decius beschäftigen (d.h. ff. 194rv, 195rv). Von den insgesamt acht erhaltenen Palimpsestseiten bleiben nun noch zwei, f. 192r und f. 193v, die mit Hilfe der zur Zeit zur Verfügung stehenden Aufnahmen nicht gelesen werden konnten. Um einen entsprechenden Entzifferungsversuch dieser zwei Seiten durchzu- führen und darüber hinaus die problematischen Stellen der anderen sechs Seiten zu klären und den unsicheren Text so weit wie möglich zu sichern, müssen erneut die

„image scientists“ zur Hilfe gerufen werden. Neue, den alleraktuellsten Stand der digitalen Lesbarmachung getilgter Handschriften reflektierende Digitalisierung und Bildverarbeitung sind für das Jahr 2016 vorgesehen.[61]


- - - - - - - - - - - -- - - - - -- - - - - -- - - - - -- - - - - -- - - - - -

 

Jana Grusková
Österreichische Akademie der Wissenschaften,
Institut für Mittelalterforschung, Abt. Byzanzforschung
Hollandstraße 11–13
A-1020 Wien
jana.gruskova@oeaw.ac.at

Univerzita Komenského, Filozofická fakulta
Katedra klasickej a semitskej filológie
Gondova 2
SK-81499 Bratislava
jana.gruskova@uniba.sk

Gunther Martin
Universität Zürich
Seminar für griechische und
lateinische Philologie
Rämistrasse 68
CH-8001 Zürich
gunther.martin@uzh.ch

- - - - - - - - - - - -- - - - - -- - - - - -- - - - - -- - - - - -- - - - - -

ANHANG

Der folgende griechische Text ist eine Reproduktion aus dem Aufsatz Martin, Grusková, GRBS 2014, S. 735–736. Wir danken an dieser Stelle den Herausgebern der GRBS herzlich für die Erlaubnis, die Transkription der Seite hier wiederzugeben.

Folio 195r untere Schrift

 

Tafel 9

Tafel 10

Tafel 11




[1] Auf ff. 192r–195v sind hier Reste einer griechischen Handschrift des 11. Jh. erhalten geblieben. Die genannten vier Blätter (zwei Doppelblätter) wurden im 13. Jh. palimpsestiert, d.h. der historische Text wurde getilgt und das Pergament wurde für neue Texte (christlichen Inhalts) wieder verwendet.

[2] Zu f. 194rv und f. 195r s. bereits G. Martin, J. Grusková, ‚Scythica Vindobonensia‘

by Dexippus (?): New Fragments on Decius’ Gothic Wars , GRBS 54 (2014) 728–754 (mit Figg. 1–4); J. Grusková, G. Martin, Ein neues Textstück aus den „Scythica Vindobonensia“ zu den Ereignissen nach der Eroberung von Philippopolis, Tyche 29 (2014) 29–43 (mit Tafeln

12–15). Zu den entzifferten Teilen des zweiten Doppelblattes, f. 192v und f. 193r, s. G. Martin,

J. Grusková, ‚Dexippus Vindobonensis (?)‘. Ein neues Handschriftenfragment zum sog. Heru- lereinfall der Jahre 267/268, WS 127 (2014) 101–120 (mit Abb. 1–4); ein wichtiges Corrigen- dum zur Datierung der Handlung auf ff. 192v+193r findet sich in Grusková, Martin, Tyche 2014, S. 38–39 (wo statt Georgios Synkellos 477, 1–7 Georgios Synkellos 466, 1–7 zu lesen ist); vgl. auch G. Martin, J. Grusková, Rückkehr zu den Thermopylen: Die Fortsetzung einer Erfolgsge- schichte in den neuen Fragmenten Dexipps von Athen, in: Tagungsband zur kleinen Mommsen-

tagung in Wuppertal (2014) „Das dritte Jahrhundert nach Christus. Kontinuitäten im Über- gang“ (im Druck); Ch. Mallan, C. Davenport,Dexippus and the Gothic Invasions: Interpreting the New Vienna Fragment (Codex Vindobonensis Hist. gr. 73, ff. 192v–193 r), JRS 105 (2015)

203–226; O. Hekster, Een andere slag bij Thermopylae (267/268), in: F. Meijer, H. van Dolen, O. Hekster (Hgg.), Te wapen! Acht spraakmakende slagen uit de oudheid, Amsterdam 2015,

64–75; O. Gengler, About Dexippus and Philostratus. Historical and prosopographical remarks

on the Scythica Vindobonensia (im Druck). Siehe dazu auch Ch. P. Jones, Further Fragments of Dexippus, online unter: https ://www.academia.edu/11913736/Further_Dexippus (abgerufen

am 24.10.2015).

[3] Zu f. 194v und f. 195r s. Martin, Grusková, GRBS 2014 (o. Anm. 2); zu f. 194r s. Grusková, Martin, Tyche 2014 (o. Anm. 2).

[4] Dank intensiver Arbeit am Archimedes-Palimpsest und an den Palimpsesten des

Katharinen-Klosters auf dem Sinai hat das technische Team der EMEL (USA; Direktor Michael

Phelps; http://emel-library.org/) eine hoch innovative Aufnahmetechnik und spezielle Metho- den zur Lesbarmachung von Palimpsesten (d.h. zur Rückgewinnung der Lesbarkeit der getilg- ten Texte) entwickelt. Die hochauflösenden Multispektralaufnahmen der acht Seiten wurden

mit einer von Kenneth Boydston bereitgestellten Spezialkamera (unter Mitarbeit von Damianos

Kasotakis) und einem von William Christens-Barry bereitgestellten System mehrfacher schmal- bandiger LED-Lichtquellen angefertigt.

[5] Die Kooperation mit der EMEL wurde dank der finanziellen Förderung durch den

österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) im Rahmen des

Projekts P 24523-G19 „Important textual witnesses in Vienna Greek palimpsests“ (Projektleiter

Otto Kresten) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Institut für Mittelalterfor- schung, Abteilung Byzanzforschung) ermöglicht (s . http://www.oeaw.ac.at/byzanz/P24523.htm). Dieser Aufsatz hat sich aus der Projektarbeit an dem genannten Palimpsest ergeben.

[6] Dazu s. Martin, Grusková, GRBS 2014 (o. Anm. 2) mit Fig. 4.

[7] Augerius von Busbeck (Ogier Ghislain de Busbecq) war ein berühmter Diplomat, kaiserlicher Gesandter an der Hohen Pforte in den Jahren 1554 –1562 und ein fleißiger Hand-

schriftenkäufer.

[8] Diese Zielsetzungen werden die Autoren der vorliegenden Studie im Rahmen eines neuen, vom österreichischen Forschungsfonds FWF geförderten Projekts verfolgen: FWF P 28112-G25 „Scythica Vindobonensia“ (August 2015 – Juli 2018), das von Fritz Mitthof (Universität Wien, Institut für Alte Geschichte und Altertumskunde, Papyrologie und Epigra- phik) in enger Kooperation mit Otto Kresten als nationalem Forschungspartner (ÖAW, Institut für Mittelalterforschung, Abteilung Byzanzforschung) geleitet wird. Bezüglich der weiteren Lesbarmachung des Textes ist eine neue Digitalisierung und Bildverarbeitung der Fragmente in Zusammenarbeit mit der EMEL (s. Anm. 4) und mit der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) in Berlin (Ira Rabin, Oliver Hahn) vorgesehen.

[9] Die Schwankungen sind bedingt durch die Gründlichkeit der Entfernung der ursprüng- lichen Buchstaben beim Vorgang des Palimpsestierens, das Ausmaß der Beschädigung des

Pergaments, die Lesbarkeit einzelner Textstellen auf den zur Verfügung stehenden Aufnahmen sowie das Ausmaß der Überdeckung der unteren Schrift durch die oben genannte Kaufnotiz

bzw. den Bibliotheksstempel.

[10] Iota mutum wurde nicht geschrieben. Als Satzzeichen wurden vom Kopisten Punkte in den drei (in den byzantinischen Handschriften) gebräuchlichen Positionen, Beistriche und

Strichpunkte gesetzt. – Um den Anfang eines neuen Sinnabschnittes hervorzuheben, beginnt

der Kopist die erste vollständige Zeile mit einer nach links ausgerückt gesetzten Initiale; s. z.B. f. 195v, Z. 17 (Epsilon).

[11] Die Satzzeichen hatten in Byzanz eine andere Funktion als im modernen Gebrauch.

Darüber hinaus waren die byzantinischen Kopisten bei ihrer Verwendung oft nicht konsequent.

[12] Mehr dazu bei Martin, Grusková, WS 2014 (o. Anm. 2) 104–105; Martin, Grusková, GRBS 2014 (o. Anm. 2) 732–734; Grusková, Martin, Tyche 2014 (Anm. 2) 31–32. – Das

[13] Zum Text von f. 195r s. Martin, Grusková, GRBS 2014 (o. Anm. 2) 735ff. Im inneren

Freirand von f. 195r, Z. 9 und im oberen Freirand rechts lassen sich Tintenreste (?) erkennen, die zu – eher späteren – Anmerkungen zum Text gehört haben könnten.

[14] ἄθλα sic (mit einem Akut); s. Martin, Grusková, GRBS 2014 (o. Anm. 2) 743.

[15] Zur Übersetzung von f. 195r vgl. Martin, Grusková, GRBS 2014 (o. Anm. 2) 737.

[16] Für wichtige Hinweise dazu danken wir Markus Stein, Herbert Bannert, Walter Stockert, Fritz Mitthof und Olivier Gengler herzlich.

[17] Zu f. 195r vgl. Martin, Grusková, GRBS 2014 (o. Anm. 2) 742–743.

[18] Möchte man versuchen, φρουρᾶc οὐ μάλα αρκούcηc als einen Genitivus absolutus zu interpretieren, wäre ἐπετύγ|χαν** ohne syntaktische Einbindung.

[19] Man könnte dies mit der Rolle Agamemnons im Trojanischen Krieg vergleichen.

[20] Für die wichtigen Hinweise zum germanischen Gefolgschaftswesen danken wir Bruno

Bleckmann herzlich. Er weist in diesem Zusammenhang auf analoge Befunde in den Mooren

Südskandinaviens (vor allem Illerup) hin. Die Angabe über die 500 Mann im Palimpsest könnte also weiteren Aufschluss über die Binnengliederung germanischer Kriegergruppen geben.

[21] Die Dexippos-Fragmente sind nach Jacoby (FGrHist 100), G. Martin, Dexipp von Athen. Edition, Übersetzung und begleitende Studien, Tübingen 2006, und L. Mecella, Dexippo di Atene.

Testimonianze e frammenti , Tivoli 2013, zitiert.

[22] Zur Bedeutung s. R. Porod, Lukians Schrift „Wie man Geschichte schreiben soll“. Kommentar und Interpretation, Wien 2013, 458.

[23] Es handelt sich hier nur um einige zusammenfassende Überlegungen. Für eine aus- führliche Information über den Inhalt des Fragments s. den griechischen Text, die deutsche Übersetzung und die Anmerkungen dazu oben.

[24] Vgl. dazu Martin, Grusková, GRBS 2014 (o. Anm. 2) 736, 742 (zu f. 195r, Z. 20).

[25] Die Tatsache, dass hier kein anderer Name genannt wird, erlaubt den Schluss, dass darunter Kniva gemeint ist; vgl. dazu Martin, Grusková, GRBS 2014 (o. Anm. 2) 743.

[26] Vgl. H. Wolfram, Kniva, in: H. Beck et al. (Hrsg.), Reallexikon der Germanischen

Altertumskunde 17 , 2. Auflage, Berlin/New York 2001, 34–37 (hier 36).

[27] Zu diesen Einfällen vgl. vor allem Jord. Get. 89ff.; Georg. Synk. 459, 466–467; Zosimos I, 23–43; Zonaras III, 136–137; HA Gall., Claud., Aur. Für die Rekonstruktionen und Quellenanalysen vgl. z.B. H. Wolfram, Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechs-

ten Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnographie , 3. (neu bearbeitete) Auflage und 5.

Auflage (mit einem neuen Vorwort mit wichtigen Informationen), München 1990 und 2009,

55–65; D. S. Potter, Prophecy and History in the Crisis of the Roman Empire. A Historical

Commentary on the Thirteenth Sibylline Oracle , Oxford 1990, passim; B. Bleckmann, Die Reichskrise des III. Jahrhunderts in der spätantiken und byzantinischen Geschichtsschreibung. Untersuchungen zu den nachdionischen Quellen der Chronik des Johannes Zonaras , München

1992, 156–294; D. S. Potter, The Roman Empire at Bay, AD 180–395, London/New York 2004,

241–266 (2014, 237–262]); J. Drinkwater, Maximinus to Diocletian and the “crisis”, in: Cam- bridge Ancient History XII (2nd ed.), Cambridge 2005, 28–66; U. Huttner, Von Maximinus Thrax bis Aemilianus, in: K.-P. Johne (ed.), Die Zeit der Soldatenkaiser. Krise und Transformation des Römischen Reiches im 3. Jahrhundert n. Chr. (235–284), Berlin 2008, 161–221; A. Goltz, U. Hartmann, Valerianus und Gallienus, ebenda, 223–295; für numismatische Belege vgl. beson- ders B. Gerov, Die gotische Invasion in Mösien und Thrakien unter Decius im Lichte der Hort- funde, in: Acta Antiqua Philippopolitana, Studia Historica et Philologica, Sofia 1963, 127–146 (Nachdr. in: Ders., Beiträge zur Geschichte der römischen Provinzen Moesien und Thrakien, Amsterdam 1980, 93–111 [hier 98ff.]) und D. Boteva, On the Chronology of the Gothic Inva-

sions under Philippus and Decius (AD 248–251) , Archaeologia Bulgarica 5 (2001) 37–44.

[28] Eine andere thrakische Stadt, die in diesem historischen Zusammenhang bei Jordanes

(Get. 102) erwähnt wird, nämlich Augusta Traiana/Beroe (Stara Zagora), wird nur mit dem ins Jahr 250 datierbaren Überfall auf Decius und seine Armee in ihrer Nähe in Verbindung gebracht, nicht mit einem Angriff auf die Stadt selbst. Vgl. Martin, Grusková, GRBS 2014

(o. Anm. 2) 746–747, Anm. 44.

[29] Novae befand sich in Moesia Inferior. Markianopolis und Nikopolis waren zwar früher Städte der Provinz Thracia gewesen, seit dem Ende des 2. Jh. gehörten sie aber zur Provinz Moesia Inferior. Einen klaren Beleg liefert in diesem Kontext Dexippos selbst, der die Ein- wohner beider Städte als Μυσοί bezeichnet; vgl. F 25 J (= F 22 Martin = F 28 Mecella) zu Markianopolis und F 22 J (= F 17 Martin = F 23 Mecella) zu Nikopolis; vgl. Martin, Grusková, GRBS 2014 (o. Anm. 2) 747, Anm. 45 (lies Novae statt Oescus).

[30] Vgl. zuletzt I. Topalilov, Philippopolis. The city from the 1st to the beginning of the 7th c., in: Roman Cities in Bulgaria. Edited by R. Ivanov (= Corpus of ancient and medieval settle-

ments in modern Bulgaria, Vol. I), Sofia 2012, 363–438 (mit weiteren Literaturhinweisen).

[31] F. 192v beginnt mit der letzten Silbe (-κην) des Wortes (f. 192r ist nicht lesbar). Die

Geographie und die Namensform lassen aber kaum eine andere Möglichkeit zu als Θρᾴκην;

vgl. Martin, Grusková, WS 2014 (o. Anm. 2) 106 und 110.

[32] Die Diskussion über die genauere Datierung dieser Einfälle ist noch nicht abgeschlos- sen. Vgl. dazu Anm. 2.

[33] Vgl. Bleckmann, Reichskrise 1992 (o. Anm. 27) 193 mit Anm. 124; E. Kettenhofen,

Die Einfälle der Heruler ins Römische Reich im 3. Jh. n.Chr. , Klio 74 (1992) 291–313.

[34] Vgl. Grusková, Martin, Tyche 2014 (Anm. 2) 32, 33, 37ff.; Martin, Grusková, GRBS

2014 (o. Anm. 2) 734, 736, 745.

[35] D.h., dass hier ein einziger Pergamentbogen zu einem Doppelblatt von zwei Blättern, f. 194 und f. 195, gefaltet wurde.

[36] Zu dieser sog. lex Gregory vgl. Martin, Grusková, GRBS 2014 (o. Anm. 2) 749, Anm. 50. Die Abfolge der Haar- und Fleischseiten auf ff. 192rv+193rv (HF+FH), die – da der Text von f. 192v unmittelbar auf f. 193r fortgesetzt wird – ohne Zweifel das mittlere (innere) Doppelblatt, d.h. 4. und 5. Blatt, des originalen Quaternio bildeten, entspricht der lex Gregory und unter- mauert damit diese Annahme; s. Martin, Grusková, WS 2014 (o. Anm. 2) Abb. 2 und 3.

[37] Vgl. dazu Martin, Grusková, GRBS 2014 (o. Anm. 2) 749–750.

[38] Der verloren gegangene Text zwischen diesen Blättern wäre dann (Aa) zwölf oder (Ab)

vier Seiten (d.h. ca. 2400 oder 800 Wörter; nach einer den aktuellen Forschungsstand berück- sichtigenden Berechnung ist eher mit ca. 200 Wörtern pro Seite [als mit 225 Wörtern wie ur-

sprünglich angenommen; s. Martin, Grusková, GRBS 2014 (o. Anm. 2), 749–750] zu rechnen).

[39] Der verloren gegangene Text zwischen diesen Blättern würde in diesem Fall (B) acht

Seiten (ca. 1600 Wörter) umfassen. Vgl. dazu Anm. 41.

[40] Dies wird teilweise in einem Aufsatz im Tagungsband des Historia Augusta Collo- quium Dusseldorpiense und ausführlicher dann in der abschließenden Edition geschehen.

[41] Die nach f. 194rv folgenden vier Blätter hätten nämlich in diesem Fall die folgenden

Ereignisse enthalten haben müssen: die Fortsetzung von Decius’ Rede, die Beschreibung der

Schlacht mit dem gotischen Heer unter Ostrogotha, sofern sie stattfand, (möglicherweise auch)

weitere Ereignisse in der Zeit vor Abrittus, die Beschreibung der Schlacht von Abrittus selbst, und die Ereignisse danach; dazu ist auch der Angriff (bzw. die Belagerung) zu zählen, der den auf f. 195rv geschilderten Ereignissen vorausging und der durch die ersten Zeilen von f. 195r vorausgesetzt war. Dass alternativ zwischen den Ereignissen auf f. 194rv und der Schlacht von Abrittus ein bisher nicht belegter Angriff der Goten unter Kniva auf eine thrakische Stadt in zwei Etappen unternommen wurde, ist äußerst unwahrscheinlich.

[42] Vgl. Martin, Grusková, GRBS 2014 (o. Anm. 2) 747–750.

[43] Zu den topographischen Gegebenheiten und zum relevanten – noch systematisch auszu- wertenden – archäologischen Material vgl. z.B. (mit weiteren Literaturhinweisen) I. Topalilov,

Das römische Philippopolis. B. 1. Topografie, Städtebau und Architektur (= И. Топалилов,

Римският Филипопол . Том 1. Топография, градоустройство и архитектура), Veliko Tăr- novo 2012; Topalilov, Philippopolis 2012 (o. Anm. 30) 363–438; E. Kesyakova, Philippopolis

during the Roman age (= E. Кесякова, Филипопол през римската епоха), Sofia 1999.

[44] Vgl. dazu Topalilov, Римският Филипопол 2012 (o. Anm. 43) 120–125 und 208–209.

„Das Befestigungssystem von Philippopolis bestand … aus einer festen Steinmauer mit teil- weise nach außen vorstehenden Türmen und einer Berme und einem Graben, die vor ihr lagen“:

Topalilov, ebenda, 214; zu weiteren Details s. 158–163, 213–214.

[45] In der Bedeutung „Stadionlänge“ Paus. V, 16, 3. Im Sinne eines Rennens über eine

Distanz von einem Stadion u.a. Pind. O. 13, 30, App. civ. I, 11, 99.

[46] Das Fragment wurde in den Excerpta de sententiis, einer der Auszugssammlungen von Konstantin VII. Porphyrogennetos, überliefert; vgl. zuletzt C. Davenport, Ch. Mallan, Dexippus’ Letter of Decius: Context and Interpretation, MusHelv 70 (2013) 57–73, wobei sie den Fall von Philippopolis ins Jahr 251 datieren.

[47] S. den Anhang; vgl. dazu Martin, Grusková, GRBS 2014 (o. Anm. 2) 747.

[48] Vgl. Dexipposʼ F 26 J (= F 23 Martin = F 29 Mecella).

[49] Mehr dazu bei Grusková, Martin, Tyche 2014 (o. Anm. 2) 32, 37, 39.

[50] Vgl. f. 194v, Z. 28–30: καὶ τὴν θρακῶν πόλιν· ἀπει|πόντεc ταῖc προcβολαῖc, ἐνέδραιc

μᾶλλον·| ἢ ἀρετῆ ἡρήκαcιν; s. Martin, Grusková, GRBS 2014 (o. Anm. 2) 735–737, 747.

[51] Die Vermutung, dass es sich in Dexipposʼ F 27 J (= F 24 Martin = F 30 Mecella) wahr- scheinlicher als um die Ereignisse von 267/268 um eine Episode aus den Kämpfen um 250 han- delt, die sich eine Zeit lang hingezogen haben dürften, wäre dadurch gestützt; vgl. Bleckmann, Reichskrise 1992 (o. Anm. 27), 165 Anm. 34. Zu diesem Dexippos-Fragment s. auch Anm. 54.

[52] Vgl. Martin, Grusková, GRBS 2014 (o. Anm. 2) 748.

[53] Vgl. auch f. 195r, Z. 8–15 (s. den Anhang).

[54] Dieses Dexippos-Fragment, das in den Excerpta de strategematibus überliefert worden ist, beginnt mit offensichtlich vom Exzerptor aus Dexippos zusammengefassten Informationen

über die Stadt Philippopolis. Der genannte Satz zum Anlass der Belagerung stellt eine Über- brückung zur eigentlichen Beschreibung des Strategems dar. Vgl. den Grund des Einfalls nach Griechenland auf f. 192v, Z. 8–12 ἐπί τε ἀθήναc·. καὶ αχαιί|αν ὁρμηθῆναι τῶ cτρατῶ· δοξη τῶν εν τοῖc | ἑλληνικοῖc ἱεροῖc χρυcῶν καὶ αργυρων ανα|θηματων· καὶ ὅcα πομπεῖα· πλουcιωτα- τ(ον) | γαρ, ταύτη το χωρίον εἶναι· ἐξεπυνθάνοντο; s. Martin, Grusková, WS 2014 (o. Anm. 2)

106. F 27 J (= F 24 Martin = F 30 Mecella) endet mit den (höchstwahrscheinlich) vom Ex- zerptor selbst hinzugefügten Worten καὶ τοῦτο τῇ πολιορκίᾳ τέλος τοῖς Σκύθαις ἐγένετο.

[55] Zu Priscus vgl. Aur.Vict. Caes. 29, 2 (s. unten Anm. 58), PIR2 I 489 und P 971. Vgl. auch Georg. Synk. 459, 9–10 ὡς καὶ τὴν Φιλιππούπολιν ἀπολέσαι ληφθεῖσαν ὑπ’ αὐτῶν καὶ

Θρᾷκας πολλοὺς ἀναιρεθῆναι; Zos. I, 24, 2 καὶ τοὺς αἰχμαλώτους, οἳ μάλιστα τῶν εὐπατριδῶν ἦσαν, ἐνεδίδου κατ’ ἐξουσίαν ἀπάγειν, ὧν οἱ πλείους ἐκ τῆς ἐν Θρᾴκῃ Φιλιππουπόλεως ἁλού-

σης ἔτυχον εἰλημμένοι.

[56] Vgl. f. 195r, Z. 16–20 (s. den Anhang); Martin, Grusková, GRBS 2014 (o. Anm. 2) 736.

[57] Vgl. f. 195r, Z. 20–24 (s. den Anhang); Martin, Grusková, GRBS 2014 (o. Anm. 2) 736.

[58] Aur.Vict. Caes. 29, 2: simulque per eos dies Lucio Prisco, qui Macedonas praesidatu regebat, delata dominatio, Gothorum concursu, postquam direptis Thraciae plerisque illo per-

venerant .

[59] Vgl. Martin, Grusková, GRBS 2014 (o. Anm. 2) 747–748.

[60] Vgl. ebenda.

[61] Dies wird schon im Rahmen des neuen, in Anm. 8 erwähnten FWF-Projekts in Zu- sammenarbeit mit den dort genannten technischen Teams (EMEL, BAM) durchgeführt werden. Die Arbeit an diesem Aufsatz wurde gefördert durch den österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (Projekt FWF P 24523-G19; s. Anm. 5); ihm sei an dieser Stelle für ihre Unterstützung gedankt. Wir möchten auch Otto Kresten, Fritz Mitthof, Herbert Bannert, Herwig Wolfram, Bruno Bleckmann, Markus Stein, Olivier Gengler, Ernst Gamill- scheg und Walter Stockert sowie dem Team der Early Manuscripts Electronic Library (EMEL; s. oben mit Anm. 4 und 5) und der Österreichischen Nationalbibliothek (besonders Dr. Andreas Fingernagel, Prof. Bernhard Palme, Mag. Sandra Hodeček und Simone Imeri) unseren herz- lichen Dank aussprechen.