Amphilochios Papathomas


Bemerkungen zu einem „Papyrus aus dem unruhigen Alexandreia am Vorabend der arabischen Eroberung“
(SB XVI 12425)



Der Wiener Papyrus mit der Inventarnummer G 19938 enthält einen Text, der sofort nach seiner Veröffentlichung auch außerhalb des engeren Kreises der Papyrologen Bekanntheit erlangte, da er von einem führenden Byzantinisten in einer allge­meinen Zeitschrift für das klassische Altertum publiziert wurde [1]. Diese editio princeps bietet eine diplomatische Transkription, einen rekonstruierten und akzen­tuierten Text (allerdings ohne Klammersetzung), eine Übersetzung sowie eine aus­führliche Kom­mentierung. Dreiunddreißig Jahre nach der Erstveröffentlichung ist noch keine Berichtigung beziehungsweise Neuinterpretation vorgeschlagen worden. Dement­sprechend verzeichnet auch die Berichtigungsliste keine Einträge zu diesem Text, der inzwischen im Sammelbuch unter der Nummer 12425 wieder abgedruckt worden ist. Im Laufe der Zeit ließ jedoch das Interesse an dem Papyrus allmählich nach, was zur Folge hatte, dass er in den letzten Jahren in der Forschung kaum noch Beachtung fand. Im vorliegenden Aufsatz möchte ich zum einen erneut auf ihn auf­merksam machen, zum anderen mich mit einigen meines Erachtens problematischen Thesen der Erstedition auseinandersetzen. Zunächst gebe ich eine den papyro­logischen Kon­ventionen entsprechende Umschrift des Textes (basierend auf der diplomatischen Transkription und Rekonstruktion der editio princeps) mit der Über­setzung des Erst­herausgebers wieder, dann lasse ich meine Bemerkungen folgen.

Transkription in der Edition

 

Übersetzung in der Edition

„< Ich schrieb an N.N. und versuchte, ihn milde zu stimmen, > damit er selbst den Sündern verzeihe, [wenn er will,] und weder (etwas) nachtrage noch verärgert dem gemeinsamen Herrn und Euch zum ‘ruhmvollen’ Gehör bringe, sozusagen von der Erinnerung an das Ärgernis überwältigt. Das hat er auch getan, nachdem sowohl der [allerhöchste] Kaiser als auch der gemeinsame Herr [von jenen] zusammen akkla­miert worden waren. Übrigens ordnete auch ich [den Mönchen] an, sich in Zukunft [wenigstens] zu beherrschen, damit alle früheren Torheiten [und ihr (böser)] Wille gebrochen (‘geknickt’) werden. Da unser aller gemeinsamer Herr mit Recht unge­halten war, verpflichteten sie sich eidlich zu künftigem Wohlverhalten, — wenn sie die Wahrheit sagen. †“

Bemerkungen

i) Kein Entwurf

In der Edition wurde der Text als Briefentwurf verstanden. Die diesbezügliche Argumentation (S. 203) lautet wie folgt:

„Die Tatsache, dass in unserem Papyrus, dessen Text mit einem Schlußkreuz endet, kein Schlussgruß enthalten ist, wie man ihn erwarten müsste, macht m. E. wahrscheinlich, dass wir einen Briefentwurf, ein bloßes Konzept, vor uns haben. Dafür scheinen mir auch die Wortstellung in Z. 5–7, das etwas nachhinkende parti­cipium coniunctum νικηθείς (wenn meine Ergänzung richtig ist) und der ebenso nach­gestellte genetivus absolutus zu sprechen“.

Dieser Vorschlag wurde von den Herausgebern des Sammelbuchs übernommen, aller­dings nicht ohne Vorbehalt, wie das Fragezeichen im Titel des Textes im SB-Abdruck verrät: „Amtlicher Brief (Entwurf?) im Zusammenhang mit (religiös bedingten?) Unruhen“.

Bei näherer Betrachtung des Textes stellt man fest, dass es keinen Grund für seine Deutung als Entwurf gibt. Das Fehlen des Schlussgrußes in den Papyrusbriefen des 6. und 7. Jh. n. Chr. ist keineswegs überraschend, sondern stellt den Normalfall dar. Wie mehrfach in der Forschung bemerkt, wurden Schlussgrüße seit dem frühen 6. Jh. n. Chr. äußerst selten[2]. Dass ein Brief beziehungsweise eine Urkunde mit einem Kreuz beginnt oder endet, ist ebenfalls der Normalfall für die Papyri der christlichen Zeit. Die Ausdrucksweise der Z. 5–7 ist zwar zugegebenermaßen nicht völlig glatt, aber auch nicht komplizierter als die Formulierung anderer Texte dieser Epoche; außerdem ist damit zu rechnen, dass einige von den Ungereimtheiten auf Fehler der modernen Edition bei der Ergänzung von Lücken zurückzuführen und nicht dem antiken Schrei­ber zuzuschreiben sind. Gegen die Annahme, dass der Text ein Entwurf ist, sprechen schließlich deutlich die sorgfältige und regelmäßige Schrift, die ein schönes Beispiel für die sogenannte „maiuscola ogivale inclinata“ beziehungsweise „sloping pointed majuscule“[3] liefert, sowie das Fehlen von jeder Korrektur (etwa Streichung von Wör­tern, interlineare Ergänzungen, Randnotizen usw.) im Fragment.

ii) Der Fundort des Papyrus: Arsinoites oder Herakleopolites

Zur Herkunft des Papyrus äußert sich der Herausgeber nicht. In der Kommen­tierung geht er jedoch davon aus, dass der Text in Alexandria geschrieben wurde, eine Hypothese, die auch im Titel des Aufsatzes ihren Niederschlag findet. Sein Argument stützt sich hauptsächlich auf die Annahme, dass der im Text dreimal vorkommende Ausdruck κοινὸς δεσπότης den Patriarchen von Alexandria bezeichnet. Für eine solche Vermutung gibt es aber, wie wir unten (v) sehen werden, keine zwingenden Anhaltspunkte. Daher entfällt die Verbindung des Textes mit Alexandria. Im HGV-Eintrag sowie im Neudruck des Textes im Sammelbuch war man vorsichtiger und gab zu seiner Provenienz an: „Herkunft unbekannt“.

Konsultiert man das handschriftliche Inventar von Carl Wessely, so stellt sich her­aus, dass der Papyrus aus dem Ankauf des Jahres 1883 stammt (Wesselys Notiz lautet: „ex 1883“). Der Text gehört also zum sogenannten „Ersten Fayumer Fund“, der ausschließlich Papyri aus dem Arsinoites und dem Herakleopolites enthielt. Dies bedeutet, dass er in einem dieser beiden antiken Gaue ausgegraben wurde. Der Fund­ort muss freilich nicht mit dem Abfassungsort identisch sein; dieser könnte durchaus Alexandria oder eine andere ägyptische beziehungsweise außer­ägyptische Stadt oder Region gewesen sein. Fest steht auf jeden Fall, dass der Papyrus, selbst wenn er außerhalb des Fayums geschrieben worden sein sollte, noch in der Antike dorthin gebracht wurde, wo er auch im späten 19. Jahrhundert zutage trat. Entweder wohnte der Adressat im Arsinoites beziehungsweise Herakleopolites oder er nahm den Papyrus dorthin mit. Vom Adressaten wurden vermutlich auch die tachygraphischen Notizen auf dem Verso in Zweitverwendung angebracht.

iii) Datum

Der Erstherausgeber hat den Text auf den Vorabend der arabischen Eroberung datiert und in den historischen Hintergrund der letzten Jahre der byzantinischen Herr­schaft in Ägypten eingeordnet. Im Sammelbuch hat man sich für eine etwas frühere Datierung entschieden, nämlich für den Anfang des 7. Jh. n. Chr., was auch im HGV reproduziert wurde. Diese Änderung bedeutet jedoch, dass viele von den Spekula­tionen des Erstherausgebers über den Inhalt des Schreibens nicht mehr stimmen können. Aufgrund paläographischer Kriterien dürfte der Text in das aus­gehende 6. oder das frühe 7. Jh. n. Chr. zu datieren sein. Wessely schlug in seinem handschrift­lichen Inventar eine noch frühere Datierung ins 4. oder 5. Jh. n. Chr. vor, die mir aber paläographisch als zu früh erscheint (Wessely neigte ohnehin des Öfteren dazu, die Papyri etwas früher als angemessen zu datieren). In diesem Kontext sollte man aller­dings bemerken, dass der Wortlaut des Textes stellenweise tatsächlich auf eine frühe Datierung hinweist; vgl. z.B. den Umstand, dass die beste Parallele für die Stelle der Z. 8–10: τοῦ | [λ]οιποῦ σοφρόνω[ς γε διακεῖσθαι,] ὡς̣ πάντα τὰ | προγεγονώτα ἀτο[πήματα κτλ.] von der Eingabe P.Lips. I 39 (= M.Chr. 127), 5–7 geliefert wird, die aus dem Jahre 390 n. Chr. stammt: ἐχρῆν | [τ]οὺ̣ς̣ [ἅ]π̣αξ πειραθέν[τ]ες ἐπιστρ[εφεία]ς καὶ ἄρχοντος φόβου [τ]οῦ λοιποῦ | σω[φρο]νεῖν καὶ μ[η]κέτι κατὰ μ̣ηδεν̣ὸ̣ς̣ ἀτόπημα διαπράξασθαι. Diese sprachliche Parallele hat gegen­über den paläographischen Gegebenheiten allerdings nicht genug Gewicht, um den Text ins 4. oder 5. Jh. n. Chr. zu datieren.

iv) Die Korrespondenten — Der Absender und der Adressat

Über die beiden Korrespondenten erfahren wir sehr wenig. Den Z. 3–4: ἐπὶ τὰς̣ | ἐνδόξους ἀκοὰς τ[ο]ῦ κοινοῦ [δεσπ]ότου καὶ ὑμῶν ist zu entnehmen, dass der Adres­sat ein vir gloriosissimus (ἐνδοξότατος) war (hierzu s. auch unten im Epilog). Hin­sichtlich des Absenders gibt es so gut wie keine Informationen. Das einzige Indiz liefert der vertraute Ton des Schreibens, der den Eindruck erweckt, dass die beiden Korrespondenten ungefähr denselben sozialen Rang hatten (vielleicht war auch der Absender ein vir gloriosissimus). Sollte dies nicht zutreffen, dann ist eher anzu­nehmen, dass der Absender unseres Textes sozial etwas niedriger als der Adressat stand.


v) Kein Patriarch von Alexandria — Keine Mönche

Der Versuch des Editors, den Papyrus in die letzten Jahre der byzantinischen Herr­schaft in Ägypten einzuordnen, stützte sich zum einen auf die Hypothese, dass der dreimal im Text erwähnte κοινὸς δεσπότης der Patriarch von Alexandria war, zum anderen auf die Ergänzung der Z. 8: ὅ̣τι κἀγὼ τ̣[οῖς μοναχοῖς] παρενε̣γύησα κτλ. Der Herausgeber argumentiert wie folgt (S. 201):

„Der Beleidigte könnte ein Regierungsbeamter oder Delegierter der Zentral­regie­rung in Konstantinopel gewesen sein. Wir wissen, dass es gerade in dem sehr sensib­len und leicht emotionalisierten Alexandreia wiederholt zu Aggressionen der Mönche und des Pöbels gegenüber kaiserlichen Beamten kam. Allerdings ist in unserem Brief nir­gends direkt gesagt, dass Mönche die Schuldigen waren. Aber dass die Schuldigen der Jurisdiktion des Patriarchen unterstanden, geht daraus hervor, dass der Schreiber an­nimmt, der Beleidigte könnte sich (mit einer Beschwerde) an den Patriarchen wenden. Der κοινὸς δεσπότης kann m. E. nur der Patriarch von Alexandreia sein, womit ich auch die Lokalisierung unserer Szene begründen möchte. Δεσπότης, und zwar nichtproto­kollarisch gebraucht, ist für den Ortsbischof noch heute in Griechen­land üblich. Die in unserem Brief dreimalige Verbindung κοινὸς δεσπότης erinnert an κοινός τις πατὴρ ὁ ἱερεύς des Johannes Chrysostomos“.

Dennoch lassen sich weder die vorgeschlagene Deutung des Ausdrucks κοινὸς δεσπότης noch die Rekonstruktion der Z. 8 verifizieren: Bei δεσπότης handelt es sich um ein äußerst häufiges Wort in den byzantinischen Papyri[4], das nichts anderes besagt, als dass die Person, die so bezeichnet wird, als „Herr“ des Sprechers diesem gegenüber sozial, wirtschaftlich und/oder hierarchisch übergeordnet ist. Oft wird der Begriff auch metaphorisch verwendet, zuweilen sogar für Personen, die nicht über­geordnet sind[5]. Sowohl δεσπότης als auch die Phrase κοινὸς δεσπότης („gemeinsamer Herr“) erschei­nen manchmal im Kontext der kirchlichen Hierarchie, in der großen Mehrheit der Belege bezeichnen sie aber verschiedene Beamten und Funktionäre, wirt­schaftlich und sozial angesehene Personen (etwa Großgrundbesitzer und ihr hohes Do­mänenpersonal) sowie den Kaiser selbst. Die Annahme des Heraus­gebers, dass δεσπότης ähnlich wie im Neugriechischen ein Synonym zu ἐπίσκοπος wäre, findet in den byzantinischen Papyri keine Bestätigung. Wer genau der κοινὸς δεσπότης der Z. 4, 6–7 und 11 war, ist nicht sicher zu klären; der Formu­lierung der Z. 3–4: ἐπὶ τὰς̣ | ἐνδόξους ἀκοὰς τ[ο]ῦ κοινοῦ [δεσπ]ότου ist lediglich zu entnehmen, dass er ein „vir gloriosissimus“ war. Damit scheidet die Möglichkeit aus, dass es sich um einen Geistlichen handelte, denn man hätte dann bei ihm nicht ein weltliches Prädikat wie ἐνδοξότατος, sondern ein geist­liches wie θεοφιλέστατος, ἁγιώτατος o.ä. ver­wendet. Für weitere Überlegungen zur Funktion des κοινὸς δεσπότης s. den abschlie­ßenden Teil des Beitrags.

Da die Identifizierung des δεσπότης mit einem Geistlichen unmöglich ist, erweist sich die Hypothese des Ηerausgebers, dass die in Z. 8 erwähnte Personengruppe Mön­che waren, als unbegründet. Auch das Vorhandensein des Adverbs σοφρόνω[ς (Z. 9) ist kein Hinweis auf Geistliche, sondern lediglich auf ein vernünftiges Ver­halten, wie es von allen Individuen erwartet werden konnte.

vi) Bemerkungen zu Einzelstellen

1 ̣[ ] ̣μμ ̣[ ] ̣ ̣[: Präziser wäre die Transkription: ̣[ ̣ ̣] ̣ [ ̣ ̣]ε̣μ̣μ̣ ̣[ ̣ ̣] ̣ ̣[- - -]. Mir scheint unwahrscheinlich, dass diese Zeile die erste des Schreibens war. Das Format des Papyrus legt zwar nahe, dass nicht viel Text zu Beginn des Briefes fehlt, wenn man aber an­nehmen möchte, dass der Absender dem Adressaten die Angelegenheit zu Beginn des Textes kurz erklärte beziehungsweise zusammenfasste und mit seinem Bericht nicht mediis in rebus begonnen hat, ist mit mindestens einer zusätzlichen Zeile zu rechnen. Ich glaube sogar, am oberen linken Eck des Fragments eine Spur von dieser Zeile erkennen zu können. Zu transkribieren wäre dort: [ ̣ ̣ ̣] ̣[- - -].

2 [ε]ἰ̣ β̣[ούλεται]: Die Ergänzung ist äußerst fraglich und meines Erachtens abzulehnen:
a) Auf dem Papyrus gibt es nur zwei minimale Tintenspuren, die keine seriöse Lesung erlauben. b) Eine Phrase wie die rekonstruierte wäre sprachlich nach συγ̣χωρήσῃ und nicht am Ende des Final-Satzes zu erwarten.

7 und 13: Anstelle von συνευφημηθέντω(ν) und ἀληθεύουσι(ν) lies συνευφημηθέντων und ἀληθεύουσιν. Der horizontale Strich über dem ω und dem ι ist meines Erachtens kein Abkür­zungsstrich, sondern eine hochgestellte kursive Form von ν.

11–12 τοῦ πάν[των ἡμῶν κ]οινοῦ δεσπότου | δικαίως ἀγανακτο[ῦν]τος: Die Phrase gehört meines Erachtens zum vorangehenden und nicht zum folgenden Satz. Daher sollte man vor τοῦ πάν[των ein Komma und nach ἀγανακτο[ῦν]τος einen Punkt setzen. Der darauffolgende Satz beginnt mit der Konjunktion καί, was im späteren Griechisch häufig ist; s. P.Heid. VII 409, Komm. zu Z. 1 mit vielen Parallelen aus der Abfassungszeit unseres Papyrus. Wenn die Ergän­zung τοῦ πάν[των ἡμῶν κ]οινοῦ δεσπότου korrekt ist, liefert die Stelle ein starkes Indiz dafür, dass der κοινὸς δεσπότης hierarchisch über den Korrespondenten und den anderen in die Ange­legenheit verwickelten Personen steht (hierzu s. auch unten im Epilog). Die Ergänzung πάν[των ἡμῶν ist allerdings keineswegs sicher; παν[- könnte auch der Beginn eines Ehren­prädikats sein.

13 εἴπερ ἀληθεύουσιν: Die letzte Bemerkung verrät die Skepsis des Schreibers darüber, ob die Übeltäter sich tatsächlich so verhalten werden, wie sie es unter Eid versprachen. Möglicherweise will er sich von ihnen am Ende des Textes doch ein wenig distanzieren, weil er Sorge hat, seine Glaubwürdigkeit völlig zu verlieren, falls diese von ihm derart unterstützten Personen ihr Ver­sprechen doch nicht halten würden (vgl. auch unten im Epilog).

Epilog und ein Rekonstruktionsversuch

Es ist nicht angenehm, eine schöne Geschichte zu zerstören, noch dazu eine wie die vorliegende, welche eine fragmentarische Papyrusquelle in das geheimnisvolle Alexan­dria kurz vor dem Ende der byzantinischen Herrschaft einordnet. Trotzdem sind derar­tige Versuche immer nüchtern und minutiös zu überprüfen, wenn man eine zuverlässige Quellenbasis für die Erforschung der Epoche haben will. Im Folgenden möchte ich auf einige wichtige Punkte aufmerksam machen, die aus der vorigen Diskussion hervorge­gangen sind, und anschließend eine Arbeitshypothese über die Ereignisse präsentieren.

Folgendes ist über den Text festzuhalten: i) Er ist in einem hohen sozialen Milieu entstanden; der Adressat ist ein vir gloriosissimus, und auch der Absender scheint ver­gleichbaren Ranges zu sein; ii) er ist kein Entwurf, sondern wurde auf ansprechende Weise, in einer schönen Schrift und von einem geübten Schreiber geschrieben; iii) er ist in einer gehobenen Sprache formuliert und erwähnt den Kaiser; iv) allem Anschein nach wurde er in einer Stadt verfasst; für die durchaus denkbare Möglichkeit, dass diese Stadt Alexandria war, gibt es jedoch keinen Beweis; v) er wurde in den Arsinoites oder Herakleopolites gesendet, wo der Adressat vermutlich wohnte, oder gelangte mit dem Adres­saten dorthin; Fundort des Stückes ist das Fayum; vi) er stammt am ehesten aus dem ausgehenden 6. beziehungsweise frühen 7. Jh. n. Chr.; eine Zeitstellung am Vorabend der arabischen Eroberung ist zwar nicht auszu­schließen, geht jedoch aus dem erhaltenen Text nicht hervor; vii) das Verso wurde in Zweitverwendung mit tachygraphischen Zeichen beschriftet; viii) es werden keine Mönche und kein Patriarch genannt; für die Annahme einer Verbindung mit dem Patriarchen Kyros gibt es keinen Anhaltspunkt; ix) die Ergän zungen der Z. 7–11 sind, wie auch der Editor zugesteht, nicht sicher. Die Entscheidung der Herausgeber des Sammelbuches, sie in ihrem Abdruck nicht aufzunehmen, war meines Erachtens korrekt.

Eine hypothetische Rekonstruktion könnte wie folgt lauten: Das Schreiben enthält einen wohl informellen Bericht über die Ahndung eines schwer­wiegenden Vergehens seitens einer uns nicht näher definierbaren Gruppe von Personen. Der Absender teilt mit, dass er vor kurzem eine dritte Person darum gebeten hat, sie möge den Übeltätern vergeben. Dem Wortlaut des Passus (vgl. vor allem μήτε μνησ[ικ]α̣[κ]ήσῃ in Z. 3 und ὡς μν̣[ήμῃ ν]ικηθε[ὶς λυ]πηρᾷ in Z. 5) ist zu entnehmen, dass diese Person ein direk­tes Opfer des Vergehens war. Nun wurde sie darum gebeten, darauf zu verzichten, die Täter dem Adressaten des vorliegenden Schreibens beziehungsweise einer noch mächtigeren Person, die im Brief als κοινὸς δεσπότης bezeichnet wird, vorführen zu lassen. Unser Schreiber bezweckt mit seiner Vermittlung, der Vor­führung und Bestra­fung der Täter seitens einer höheren Instanz vorzubeugen. Der genaue Gegenstand des Vergehens wird uns zwar wohl für immer verborgen bleiben, allem Anschein nach wurde es aber durch eine gravierende Respektlosigkeit gegenüber der Obrigkeit gekennzeichnet, konkreter gegenüber dem κοινὸς δεσπότης und dem Kaiser selbst. Dieses Verhalten dürfte allerdings eher zivile (finanzielle?) und nicht, wie der Erstherausgeber annahm, kirchliche Angelegenheiten betroffen haben. Nach der einlenkenden Zustimmung des Opfers hat unser Schreiber die Übeltäter ermahnt und ihnen den Ratschlag gegeben, sie sollten sich künftig ver­nünftig verhalten. Zugleich hat er sie gezwungen, den κοινὸς δεσπότης und den Kaiser öffentlich zu preisen, wohl als Zeichen der Reue für ihre frühere Respekt­losigkeit beziehungsweise Unge­horsamkeit diesen gegenüber. Außerdem zwang er sie, dass sie unter Eid öffentlich versprechen, dass sie sich ab sofort wohlverhalten werden. All diese Maßnahmen sowie ihre Aufzählung in dem Papyrus sind meines Erachtens im Rahmen des Ver­suchs des Schrei­bers zu verstehen, den Tätern zu helfen: Er ermahnt sie, er züchtigt sie verbal und zwingt sie zu einer öffentlichen Huldigung und einem öffentlichen Eid über ihr künfti­ges Verhalten. Dabei handelt es sich um eine eher sanfte Züchtigung, durch die unser Schreiber versucht, einer harten Bestrafung der Übeltäter seitens des κοινὸς δεσπότης vorzubeugen.

Eine Frage, die noch offen bleibt, ist, wer der κοινὸς δεσπότης war. Er war sicher­lich jemand, der in der Lage war, die Täter zu bestrafen, und hatte zudem Gründe dafür, weil ihre Handlungen ihn negativ getroffen beziehungsweise beleidigt hatten. Der Um­stand, dass er den Rang eines vir gloriosissimus innehatte (Z. 4), liefert uns einen wichtigen Hinweis, da dieses Rangprädikat in der späteren Phase der byzan­tinischen Zeit Ägyp­tens für die Bezeichnung von Personen verwendet wurde, die zur sozialen Oberschicht gehörten und Ämter wie die des dux, des comes, des Pagarchen oder des Topoteretes bekleideten[6]. Der κοινὸς δεσπότης dürfte daher ein hochrangiger Funktio­när auf Pro­vinz- beziehungsweise Gauebene gewesen sein. Ob er hier in seiner öffent­lichen oder, wie ebenfalls möglich, in seiner privaten Funktion erscheint, ist nicht klar. Im letzteren Fall könnte er ein Großgrundbesitzer gewesen sein, der das Clarissimat führte und in dessen Domäne das Vergehen stattgefunden hat. Sowohl unsere Korres­pondenten als auch die Übeltäter und das Opfer könnten dann zum Ver­waltungspersonal beziehungs­weise zu den Bediensteten der Domäne gehört haben.

Das Opfer war mit Sicherheit niedrigeren Ranges als der κοινὸς δεσπότης und wohl auch als die beiden Korrespondenten. Der Adressat unseres Textes, ebenfalls ein hoch­rangiger Funktionär, der den Rangtitel eines ἐνδοξότατος trug, musste durch das vorlie­gende Schreiben informiert werden, vermutlich weil er für die Ahndung des Vergehens, die Bestrafung der Täter und ihre eventuelle Vorführung vor den κοινὸς δεσπότης zu­ständig war. Sollte es sich beim Letzteren um einen Großgrundbesitzer gehandelt haben, dann könnte er sein Antigeuchos gewesen sein. Unser Schreiber war dagegen für die Regelung der Angelegenheit formal nicht zuständig. Sein Ton und die rhetorischen Über­zeugungsstrategien, die er im Brief anwendet, zeugen davon, dass er diesbezüglich keine echte Befug­nis hatte (vielleicht war er für einen anderen Verwaltungs­bereich zuständig). Er versuchte auf diskrete Weise schnell zu vermitteln, um das Schlimmste für die Täter zu verhindern. Warum er sie unbedingt schützen wollte, bleibt uns leider unbekannt. Nach­dem er beim Vermitteln Erfolg hatte, informierte er den Adressaten unseres Schreibens, einerseits weil dieser die zuständige Instanz war, andererseits damit er sich selbst versi­chert, dass die Sache erledigt war und die Täter nicht wegen fehlender Kommunikation doch noch dem κοινὸς δεσπότης zur Bestrafung vorgeführt wurden.

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Institut für Klassische Philologie
Philosophische Fakultät
Universität Athen
Panepistimiopolis Zographu
15784 Athen, Griechenland
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[1] H. Hunger, Ein Papyrus aus dem unruhigen Alexandreia am Vorabend der arabischen Eroberung (Pap. Vindob. Gr. 19938), Illinois Classical Studies 6 (1981) 197–204; http://aleph.onb.ac.at/F/7YKSMRLD4CQKQ2JIGTMQSG58D3JCAD56G5JGBVLGJQU5LV53CY-00907?func=find-b&find_code=WRD&adjacent=N&request=19938.

[2] Siehe z.B. A. Papathomas, Höflichkeit und Servilität in den griechischen Papyrus­briefen der ausgehenden Antike, in: B. Palme (Hrsg.), Akten des 23. Internationalen Papy­rologenkongresses. Wien, 22.–28. Juli 2001 (Papyrologica Vindobonensia 1), Wien 2007, 497–512 (bes. 507). Für eine ähnliche Entwicklung im Präskript s. J. L. Fournet,Esquisse d’une anatomie de la lettre antique tardive d’après les papyrus, in: R. Delmaire, J. Desmulliez, P.-L. Gatier (Hrsg.), Correspondances. Documents pour l’histoire de l’Antiquité tardive, (Collection de la Maison de l’Orient et de la Méditerranée Jean Pouilloux 40, Série littéraire et philo­sophique 13), Lyon 2009, 23–66 (bes. 37–46).

[3] Dabei handelt es sich um eine nach rechts geneigte Schrift, die des öfteren auch für koptische Literatur und Dokumente verwendet wurde (daher wird sie manchmal als „koptischer Stil“ genannt). Zu diesem Schrifttypus, der sowohl in literarischen Papyri (s. z.B. P.Horak 6 mit weiteren Belegen [Anm. 6]) als auch in Briefen der Spätantike (s. z.B. CPR XXV 17 und 28) anzutreffen ist, siehe G. Cavallo,Funzione e strutture della maiuscola greca tra i secoli VIII–XI, in: J. Glénisson et al. (Hrsg.), La paléographie grecque et byzantine (Colloques inter­nationaux du Centre National de la Recherche Scientifique 559), Paris 1977, 95–137 (bes. 98–106) und F. Mitthof, Neue Evidenz zur Verbreitung juristischer Fachliteratur im spätantiken Ägypten: Zwei Bearbeitungen des Codex Theodosianus, in: H.-A. Rupprecht (Hrsg.), Sym­posion 2003. Vorträge zur griechischen und hellenistischen Rechtsgeschichte. Rauisch­holzhausen, 30. September – 3. Oktober 2003 (Akten der Gesellschaft für griechische und hellenistische Rechtsgeschichte 17), Wien 2006, 415–422 (bes. 417 mit weiterer Literatur).

[4] Für ein extremes Beispiel, in dem die Wörter δεσπότης und δεσποτεία fünfzehn Mal in einem einzigen Brief aus der Abfassungszeit unseres Textes vorkommen, s. SB VI 9616 Verso (550–558 n.Chr.).

[5] Mit δεσπότης kann z.B. auch der Vater seinen Sohn oder der Abt einen einfachen Diakon anreden; zu Beispielen und Erklärung s. A. Papathomas, a.a.O. (Anm. 2), bes. 505 und 511.

[6] Siehe B. Palme, CPR XXIV 30, Komm. zu Z. 5 und 31, Komm. zu Z. 6 sowie A. Papathomas, CPR XXV 15, Komm. zu Z. 6 (an diesen Stellen wird auch die frühere Literatur verzeichnet).