Rudolf Haensch


Vorausschauender Euerget und Getreideversorgung
einer Kleinstadt

Eine bilingue Inschrift aus Albanien im Lichte von Wiener Unterlagen


Tafeln 1–2



Bei seiner Reise durch Mittelalbanien im Sommer 1900 nahm Carl Patsch nahe beim Dorf Pljočë auf einem Ausläufer des Tartari die bisher einzig bekannte bilingue, lateinisch-griechische Inschrift aus Albanien auf. Es handelte sich um ein „0,305 hohes und 1,13 m langes, oben etwas, stärker rechts abgeschlagenes und auch sonst verstoßenes Monument aus Kalkstein“. Es war in der Fassung einer der beiden dortigen Quellen verbaut [1]. Der teilweise recht verwaschene Block war 1873 zum ersten Mal erwähnt worden, wahrscheinlich auf der Grundlage eines nie veröffentlich­ten Teilberichtes, den der erste im französischen Auftrag tätige wissenschaftliche Erforscher des antiken Albaniens, Xavier Gaultier de Claubry, über seine Reise im Jahre 1858 angefertigt hatte[2]. Patsch legte 1904 eine Zeichnung der Inschrift, eine Transkription sowie einen achtzeiligen Kommentar vor und kündigte an, er behalte sich vor, „die Inschrift <...> an anderem Orte eingehender zu erörtern“. Der wichtigste der in Albanien in den 20 und 30er Jahren tätigen italienischen Archäolo­gen, Luigi Mario Ugolini, sah die Inschrift, konnte sie seinen Angaben nach wegen ihres zugewachsenen Zustandes aber nicht gut photographieren und verlor zudem den angefertigten Abklatsch. So druckte er 1927 die von Patsch publizierte Zeichnung und dessen Text mit minimalen Änderungen und einem Kommentar von 9 Zeilen ab [3]. Dieselbe Zeichnung, ein nicht weiterführendes Photo, nur den lateinischen Text und einen Kommentar von 10 Zeilen findet man im 2009 publizierten Corpus des inscrip­tions latines d’Albanie (CIA) unter Nummer 218. Für den griechischen Text wurde ebendort auf eine bevorstehende Publikation von Pierre Cabanes hingewiesen. 2011 erschien eine von ihm und mehreren Kollegen verfaßte Studie unter dem Titel Histoire et épigraphie dans la région de Vlora. Sie bietet im Falle der fraglichen Inschrift allerdings nur ein kaum besseres Photo, den Text, eine reichlich fehlerhafte Übersetzung und einen Kommentar von 6 Zeilen[4].

Eine Autopsie des Steines war dem Autor dieses Aufsatzes nicht möglich. Aber er konnte seine Studie dank freundlicher Unterstützung von Frau Isabella Benda-Weber auf die im Österreichischen Archäologischen Institut in Wien aufbewahrten Unterla­gen von Carl Patsch stützen. Neben einer in 1:1 gehaltenen, offensichtlich vor Ort angefertigten Zeichnung (hier Taf. 1), der Vorlage für die bisherige Wiedergabe, handelt es sich um einen dreiteiligen Abklatsch der Inschrift. Da dieser nicht alles das erfaßt, was auf der Zeichnung wiedergegeben wurde, entstand diese unabhängig von dem Abklatsch.

Die Inschrift lautet in der letztes Jahr von P. Cabanes u.a. vorgelegten Lesung folgendermaßen:

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Die Lesung entspricht weitgehend dem von Patsch 1904 vorgelegten Text. Überhaupt ist festzustellen, daß die bisher publizierten Texte nur wenig voneinander abweichen, genauso daß diese geringfügigen Differenzen ausnahmslos nicht kom­mentiert wurden. Folgende Unterschiede sind in den Editionen auszumachen:

Z. 1: [Σεβα]στοῖς: Ugolini.

Z. 7: M., also ein abgekürztes Μ(άρκου): Patsch, Cabanes u.a.; Μ(άρκου): PHI; διάταξις: Patsch, Cabanes u.a.; διάτα<ξ>ις: PHI, διάτα(ξ)ις (ἀνθ’ ὧν?) λ... Βαριανοῦ: Ugolini.

Z. 8: pecunias: CIA; TISI nur in der Zeichnung, nicht in der Abschrift des Textes: Patsch; tie: CIA.

Z. 9: [...]no: CIA; constitua[m]: Cabanes u.a. (anscheinend Druckfehler, gemeint war wohl wie in den bisherigen Eitionen constituta[m]); decreto: Patsch, Cabanes u.a.; [d]ecret[o]: Ugolini; decret[o]: CIA.

Keine der Editionen macht kenntlich, daß die zweite Zeile mit der erstmaligen Erwähnung des Euergeten ausgerückt ist. In keiner war man um eine exakte Abschät­zung der Lücken bemüht; statt dessen setzten alle, Patsch folgend, zumeist drei Punkte. Das sollte bei Patsch an den Zeilenanfängen und -enden wohl eine Lücke unbekannten Ausmaßes kennzeichnen, impliziert seit Einführung des Leidener Klam­mersystems jedoch genau drei fehlende, nicht ergänzbare Buchstaben. Die Praxis, durch die Zahl der Punkte diejenige der fehlenden Buchstaben zu kennzeichnen, spielte bei Patsch (und seinen Nachfolgern) in den Zeilen 2, 3 und 7 eine Rolle, wo er vier bzw. fünf Punkte setzte.

Der Fundort der Inschrift, das heutige Pljočë, liegt innerhalb eines c. 600 m hoch gelegenen antiken Siedlungsareals von 13 Hektar. Dieses identifiziert man heute nach Hinweisen in der antiken geographischen (und übrigen) Literatur und auf der Basis von Münzfunden [5] mit Amantia, der Hauptsiedlung des epirotischen Stammes der Amantes (Taf. 2). In römischer Zeit hatte die Gemeinde den Status einer civitas libera[6] innerhalb der Provinz Macedonia. Die Stadt bestand zumindest bis zu den Slaweneinfällen, denn Prokop berichtet von Baumaßnahmen Justinians in Amantia[7] . Aus der Stadt und ihrem mutmaßlichen Territorium kommen neben der hier zu diskutierenden Inschrift elf weitere, jeweils in Griechisch verfaßte [8] — wie es in einer griechischsprachigen Provinz bei einer Stadt mit indigener Bevölkerung auch nicht anders zu erwarten ist.

Schon beim ersten Blick[9] wird deutlich, daß die Inschrift aus drei Teilen besteht: In den ersten sechs Zeilen wird von einem euergetischen Akt berichtet. Dabei wird der Name des Euergeten durch Ausrücken der zweiten Zeile hervorgehoben. Auf die sechs Zeilen folgt durch noch weitergehendes Ausrücken deutlich als neuer Beginn markiert und in kleinerer, abweichender, an die Kursive angelehnter Schrift mit einzelnen Überlängen, anderen Sigma- und kursiven Omegaschreibweisen eine wei­tere griechische Zeile. Die abschließenden zwei Zeilen bilden durch den Gebrauch des Lateinischen den dritten Teil. Die Frage, wie die Dreiteilung zu erklären ist, ob sie auf eine Beschriftung in mehreren — zwei oder drei — Etappen zurückgeht, sei zunächst einmal zurückgestellt.

Die Inschrift befand sich aller Wahrscheinlichkeit nach ursprünglich am oder bei dem Gebäude, dessen Errichtung in ihr erwähnt wird. Sie könnte nach ihrer äußeren Gestalt über einem Eingang angebracht gewesen sein, möglicherweise dem (wichtigs­ten) des Getreidespeichers. Da sie aber nur noch 1,13 m lang ist, wäre dann rechts ein erheblicher Teil des Textes verloren gegangen[10]. Denkt man an den Haupteingang eines horreum, durch den unter Umständen nicht nur Säcke getragen wurden, sondern womöglich gar Fuhrwerke fuhren, könnte der Block ursprünglich zwei- oder gar dreimal so lang gewesen sein.

Die Inschrift beginnt mit dem Segenswunsch Τύχηι ἀγαθῆι. Anschließend werden die genannt, denen das Monument geweiht ist. Der erste Teil θεο[ῖς Σεβ]αστοῖς ist wohl sicher. Dem schließt sich jedoch kaum, wie seit Patsch angenommen, Κα[ίσαρσιν] an; denn die Formulierung wäre singulär [11]. KA dürfte den Beginn von καὶ darstellen und dann ein Hinweis κα[ὶ τῇ πόλει oder τῇ πατρίδι oder τῷ δήμῳ[12] folgen. Da ein Getreidespeicher gestiftet wurde, ist eine Weihung an eine lokale Gottheit — entsprechend der hellenistischen Münzprägung von Amantia[13] wäre insbesondere an Zeus oder Artemis zu denken — eher unwahrscheinlich.

Alle drei möglichen Ergänzungen legen eigentlich nahe, daß rechts nicht sehr viel, etwa ein Fünftel des Gesamttextes, verlorenging. Dieser Eindruck drängt sich auch von den naheliegenden Ergänzungen für mehrere der folgenden Zeilen auf. Allerdings ist keine von ihnen so zweifelsfrei, daß sie einen unumstößlichen Ausgangspunkt liefert, um die Anzahl der fehlenden Buchstaben zu bestimmen, und damit die ange­sprochene, aufgrund des möglichen Anbringungsortes des Inschriftenblockes nahe­liegende Hypothese zu widerlegen. Einzig sicher ist nur wegen des von Zeile 2 in Zeile 3 reichenden festen Formulars [--- ἐκ τῶν] | ἰδίων (dazu u. bei Anm. 18), daß mindestens circa 10 Buchstaben fehlen, möglicherweise aber eben erheblich mehr. Eine zweifelsfreie Antwort auf die Frage, wieviel Text auf der rechten Seite fehlte — etwa 10 Buchstaben oder das Doppelte bzw. gar Dreifache des noch vorhandenen Textes —, ist nicht möglich. Insgesamt erscheint allerdings nach dem, was sich für die einzelnen Zeilen beobachten läßt, die erste Alternative die wahrscheinlichere.

Ganz unsicher ist im Falle der ersten Zeile schließlich die tradierte Annahme, θεο[ῖς Σεβα]στοῖς impliziere, die Inschrift sei in der Gesamtherrschaft zweier (oder mehrerer) Kaiser entstanden, wobei man dann zumeist an die Severer dachte. Seit dem frühen Prinzipat gibt es aber genügend Beispiele, daß mit solchen Formeln auf nacheinander regierende Kaiser, Kaiser und ihre mutmaßlichen Nachfolger oder generell auf das amtierende Herrscherhaus hingewiesen wurde[14]. Damit fällt auch die bisherige Datierung „ca. A. D. 200“ [15].

In der zweiten Zeile folgt — durch Ausrücken hervorgehoben — der Name des Euergeten, Publius Pomponius, Publii filius, Aelianus[16]. Die einzelnen Bestandteile des Namens sind zu häufig [17], als daß eine prosopographische Suche weiterführen würde oder speziell eine Verbindung der Ahnen des Euergeten zu T. Pomponius Atticus, dem Freund Ciceros und Landbesitzer bei Buthrotum, plausibel wäre. Daß der Stifter städtischer Amtsinhaber war, ist zwar möglich, aber entgegen den bisherigen Darstellungen[18] der Inschrift nicht eindeutig zu entnehmen. Allerdings — und das ist gerade in einer Stadt wie Amantia nicht selbstverständlich — besaß er das römische Bürgerrecht. Das auf das cognomen folgende Wort beginnt nach dem Abklatsch anscheinend mit einem Lambda, nicht einem Alpha, denn eine entsprechende Querhaste fehlt. Ein Alpha hätte an einen ἀγορανόμος denken lassen, zumal aus einer solchen Funktion die Stiftung besonders gut hätte erklärt werden können. Ohnehin aber braucht der letzte Buchstabe vor der Lücke nicht zu einer städtischen Magistratur gehört zu haben, sondern könnte z.B. auch Anfang eines weiteren cognomen gewesen sein. In der Lücke am Ende dieser Zeile muß u.a. [ἐκ τῶν] gestanden haben, das vom ersten Wort der folgenden Zeile ἰδίων verlangt wird.

In den Zeilen 3 und 4 werden dann die vom Euergeten gestifteten Bauten genannt. Anscheinend aus eigenen Mitteln erbaute er einen Getreidespeicher und ein zweites Gebäude — beide Bauten besaß die Stadt (bisher)[19] nicht: --- ἐκ τῶν] ἰδίων τό ∙ τε ∙ σειταποδοχ[εῖον κ]ατεσκεύασεν ∙ καὶ τὴ̣[ν --- ἀνέθη(?)]κεν ∙ οὐδέτερον ἐχούσης [τ]ῆς πόλεως ∙ πρότερον. Die Inschrift liefert nicht nur den ersten (epigraphischen) Beleg für das Wort σ(ε)ιταποδοχεῖον (Getreideabgabelager)[20]. Überhaupt erscheinen griechische und lateinische Begriffe für Getreidespeicher wie z.B. σιτοβολών, σιτοδόκη, σιτοδοχεῖον, σιτοθήκη, σιτοφυλακεῖον, σιταποθήκη bzw. horreum, grana­rium sehr selten in Inschriften. Parallel dazu ist auch der Bau eines Getreidespeichers als euergetische Tat kaum epigraphisch bezeugt[21]. Konkret scheint eine vergleichbare Stiftung in der griechischen Welt nur bei IG IX 2, 243 = I.Thess. I 55 aus Pharsalos in Thessalien vorzuliegen[22]; die Inschrift spricht von: [----]χου Κραννώ[νιος πρ]οστάτης τῆς [πόλεω]ς τὴν στο̣ὰ̣ν [καὶ τὸ σι]τοβολε̣ῖον [τοῖς θ]εοῖς κα[ὶ τ]ῆ̣ι πό[λει ------]. Es fehlt allerdings jeder Anhaltspunkt, um die Inschrift zeitlich oder inhaltlich genauer einzuordnen.

Etwas häufiger erscheinen horrea, die freilich nicht immer (nur) der Lagerung von Getreide dienten, in lateinischen Inschriften, insbesondere in Nordafrika. In Mactaris erbaute im Jahr 88iuventus civitatis Mactarianae cultores Martis Aug(usti) solo publico basilica(m) et horrea II pecunia sua[23]. Ein Mitglied der lokalen Führungs­schicht, ritterlicher Offizier und adsessor proco(n)s(ulis) provinciae Galliae [Narbon(ensis)], stiftete zu einem nicht genau bestimmbaren Zeitpunkt im 1. Jh. in Obulco in der Baetica tabernas [---] et post horreum solo empto ab re publica d(e) s(ua) p(ecunia)[24]. Die summae honorariae verschiedener städtischer Amtsinhaber hatten anscheinend — u.a.? — als Finanzquelle gedient, als nach dem Zeugnis einer fragmentarischen Inschrift aus dem heutigen Skira ein horreum publicum errichtet wurde[25]. Wenn im 3. oder 4. Jh. nach einer in Henchir el Oust gefundenen Inschrift ein Marius Victorianus ein orreum oliarium adq(ue) frumentarium, curiam honorum omnium d(ecreto?) o(rdinis?) errichtete[26], bleibt dagegen offen, von wem diese Bau­maßnahme ausging und wer sie finanzierte. Drei Mitglieder einer spätantiken Honora­tiorenfamilie vergrößerten — amplific(a)verun[t] — nach einem Zeugnis aus Rab Silyaneh in der Africa Proconsularis eine apotheca, also möglicherweise ebenfalls einen Getreidespeicher.

Daß Getreidespeicher so selten als Objekte euergetischer Taten in Inschriften genannt werden, bedeutet natürlich nicht, daß „the situation came about that the Emperor ultimately owned all horrea which had any public or imperial purpose“[27]. Vielmehr waren allem Anschein nach solche Bauten lediglich keine besonders beliebten Objekte privaten Euergetismus — sie waren wohl zu unspektakulär und wurden üblicherweise aus rein ökonomischen Motiven errichtet. Nicht zufällig wird in der Inschrift aus Amantia darauf hingewiesen, daß ein solcher Bau dort bisher gefehlt hatte. Anscheinend hatte man wegen der Lage der Stadt auf einem Bergrücken den Aufwand für Bau und jährliches Auffüllen eines solchen Speichers bisher gescheut — zumal es angesichts des im Imperium Romanum geltenden Friedens keine militärische Notwendigkeit dazu gab.

Welches der zweite Bau war, ist schwer zu bestimmen, da es keinen zuverlässigen Anhaltspunkt für die Größe der Lücke gibt. Im Zusammenhang mit einem Getreide­speicher könnte man an eine Meßeinrichtung für Getreide denken. Andererseits sollte es die schon aus praktischen Gründen des Marktgeschehens bereits gegeben haben. So bleibt ein non liquet. Wichtig ist aber, daß diese Zeile deutlich macht, daß in diesem Teil der Inschrift mindestens 11 Buchstaben am rechten Rand verloren gin­gen; denn selbst wenn man nur einen kurzen Begriff für einen Bau wie z.B. στοάν nimmt, kommt man mit τὴ̣[ν στοάν ἀνέθη]|κεν auf mindestens 11 verlorene Zeichen. Was bisher über das vor- und frührömische Amantia bekannt ist, macht es nicht unmöglich, daß erst Aelianus der Gemeinde eine Stoa stiftete.

Am Ende der 4. und in den beiden folgenden Zeilen wird eine weitere euergetische Tat genannt. Wenn πρότερον sich auf das Folgende und nicht das Vor­hergehende bezog, wofür der Wortgebrauch in Inschriften eher zu sprechen scheint, wäre dieser Akt des Euergetismus zeitlich den beiden Baumaßnahmen vo­raus­gegangen. In einer Zeit des Getreidemangels[28] wollte Pomponius Aelianus sicher­stellen, daß Getreide zu einem bestimmten, nicht mehr erhaltenen, in Denaren angegebenen Preis pro Modius erworben werden konnte: ∙ πρότερον [--- ἐν δὲ τῇ σει]|τοδείᾳ ∙ παρασχὼν τοῦ πυροῦ ∙ τὸν ∙ μόδιον ∙ δηναρίο[---]. Es müssen keineswegs mehrere Denare pro Modius gewesen sein, denkbar wäre gerade ein Preis von einem Denar[29]. Offen bleibt, wer etwas zu diesem Preis von wem erwarb — die Stadt von ihm oder ihre Bürger oder Bewohner auf dem Markt?

Kann bei den bisher diskutierten Zeilen an dem Gesamtsinn kein Zweifel entstehen, so gilt das für die folgenden nicht mehr. Die Schwierigkeiten rühren daher, daß in diesen Zeilen mit vergleichsweise individuellen und spezifischen Formulierun­gen eine oder mehrere Regelungen referiert wurden, die ansonsten äußerst selten in Inschriften festgehalten wurden und für die es kaum Parallelen gibt. Dement­sprechend schwierig ist, sie zu verstehen und die Lücken zu ergänzen.

Angesichts dieser Schwierigkeiten empfiehlt sich, zunächst generell einmal die verschiedenen Möglichkeiten aufzuzeigen, mit denen kleinere Städte des römischen Reiches und ihre Führungsschichten auf die immer wieder periodisch auftretenden Getreideknappheiten reagieren konnten [30]. Ulrich Fellmeth meinte zwar 1998 eine sehr pessimistische und primitivistische Sicht ihrer Re-aktionsmöglichkeiten vertreten zu müssen: „Wie im republikanischen Rom kam man in den Landstädten über kurzfris­tige Notmaßnahmen nicht hinaus. Es wurde nicht, wie im kaiserzeitlichen Rom, die Infrastruktur und die Getreidebeschaffung durch längerfristige administrative Maß­nahmen krisensicher organisiert, auch gab es weder eine nennenswerte Getreidevor­ratshaltung, noch wurden in den Städten öffentliche finanzielle Reserven für Hunger­krisen gebildet“ [31]. Doch wie zu zeigen sein wird, hatte man z. T. schon im Helle­nismus in der späteren östlichen Hälfte des Imperium Romanum auch in kleineren Städten ein ganzes Instrumentarium herausgebildet, um solchen Krisen zu begeg­nen [32]. Daß dieses Instrumentarium in den folgenden Jahrhunderten verloren gegangen wäre, ist eigentlich ebensowenig vorstellbar wie die Annahme, daß es sich nicht verbreitet hätte.

Die häufigste und einfachste Reaktion auf eine Getreideknappheit war der Versuch, ortsansässige Großgrundbesitzer zu einem Verkauf zumindest eines Teils ihrer Bestände zu einem Preis, der unter dem aktuellen erhöhten Preisniveau lag, zu bewegen. Entweder wurden diese aufgefordert, ihr Getreide verbilligt anzubieten oder gar kostenlos abzugeben, oder man kaufte es seitens der Stadt auf, um es dann durch die städtischen Magistrate verbilligt und zumeist in festgesetzten Kontingenten an die Bürger bzw. manchmal auch alle Bewohner einer Siedlung abzugeben. Nach dem bekannten Protogenes-Dekret hatte z.B. Olbia mindestens zweimal in Getreidekrisen versucht, von führenden Bürgern Getreide unter dem Marktpreis aufzukaufen[33]. In Ariminum dankte man einem Ritter und Patron der Stadt u.a. deshalb dum et annonae populi inter cetera beneficia saepe subvenit[34]. Zum Lob eines anderen Ritters erwähnte man in Camerinum: Huius pater annonae caritates saepius sustinuit[35]. Die Bürger undincolae von Forum Sempronii in Italien lobten einen prominenten Mitbürger und ritterlichen Procurator quod annona kara frument(i) denario modium praestitit[36]. Einem städtischen Magistraten der Kolonie Patras wurde dafür gedankt, daß erin annonam col(oniae) su(a)e levandam vendidit f(r)umentum DXV sing(ulum) mod(ium) *(denarii) s(emissis) [37]. Mark Aurel und Lucius Verus sowie spätere Kaiser mußten immer wieder einschärfen, kein Dekurione dürfe gezwungen werden, Getreide unter dem Marktpreis anzubieten[38]. Dieselben Kaiser [39] bezeichneten es in einer in den Digesten[40] überlieferten Anordnung als minime aequum (also sehr unbillig[41]), wenn decuriones ihren Bürgern Getreide zu einem geringeren Preis als dem tatsächlichen Marktpreis verkaufen würden ( minime aequum est decuriones civibus suis frumentum vilius quam annona exigit vendere). Man kann unter­schiedliche Gruppen als diejenigen vermuten, von denen der Widerstand gegen eine solche Praxis ausging, dessen Berechtigung die Kaiser anerkannten. Eher aber als an Getreidehändler zu denken, deren Geschäft geschädigt wurde, sollte man in Mitdekurionen die Urheber sehen, die unter sozialen Druck gerieten, auch ihr Getreide verbilligt zu verkaufen[42]. Fehlte es vor Ort an möglichen Getreidelieferanten, versuchte man außerhalb einen entsprechenden Euergeten zu finden. Ephesos dankte z.B. einem Rhodier schon um 300 v. Chr., weil er Getreide importiert und unter dem Marktpreis verkauft hatte[43].

Fanden sich keine Freiwilligen, so wurde unter Umständen versucht, einen be­stimmten Getreidepreis festzulegen. Um diesen durchzusetzen, wurden die Bewohner einer bestimmten Region dann dazu verpflichtet, das nicht für den Eigenbedarf benötigte Getreide an einem Stichtag oder während einer bestimmten Periode[44] anzubieten. Das haben noch in der Zeit von Mark Aurel und Lucius Verus Dekurionenräte durchzusetzen versucht. Doch die Kaiser verboten auch dies reichs­weit: non esse ordini cuiusque civitatis pretium grani quod invenitur statuere [45].

Erlaubt blieben solche Preisfestlegungen den Statthaltern, und für diese sind sie dementsprechend auch mehrfach belegt. Die bekannteste derartige Maßnahme stellt das Edikt des L. Antistius Rusticus, Gouverneur von Cappadocia et Galatia zu Beginn der 90er Jahre des 1. Jh., dar [46]. Bei einer wie oft unmittelbar vor der neuen Ernte besonders verschärften Getreidekrise hatte dieser Statthalter angeordnet, alle Bewoh­ner von Antiochia in Pisidien sollten am 1. August alles Getreide, das sie nicht für den Lebensbedarf der eigenenfamilia und die neue Aussaat benötigten, zu einem von ihm festgesetzten maßvollen Preis — nämlich einem Denar — anbieten [47].

Doch man reagierte in vielen Städten nicht erst im Moment der aktuellen Krise auf die Gefahr einer Getreideknappheit, sondern traf — durchaus risikobewußt — vorausschauende Maßnahmen. Der häufigste Hinweis[48] auf solche Maßnahmen sind die Institutionen der σιτωνία, also städtischer Aufkäufe und Ausgaben von Getreide, entsprechender Kassen, τὰ σιτωνικὰ χρήματα, und der für diese zuständigen Magistrate (σιτῶναι) in den griechischen Städten des Ostens[49] und der mit diesen anscheinend vergleichbarencuratores annonae im Westen[50]. Auch eine mit den σιτωνικὰ χρήματα vergleichbare arca frumentaria wird von Hermogenianus erwähnt[51].

Grundsätzliches Problem ist jedoch, daß diese Institutionen in der Kaiserzeit gerade im Westen vor allem aus Laufbahninschriften städtischer Magistrate bekannt sind und deshalb kein detaillierter Einblick in ihre Entstehung und in die mit ihnen verbundenen Tätigkeiten zu gewinnen ist [52]. Wie für solche Inschriften typisch, wird, selbst wenn nicht nur das Amt genannt wird, höchstens erwähnt, der betreffende Amtsinhaber habe bei der Erledigung dieser Aufgabe eigene Mittel (in Höhe von...) [53] eingesetzt oder es sei ihm ungewöhnlicherweise gelungen, einen Ankauf von Getreide aus einer weit entfernten Region zu organisieren. In die alltägliche Realität dieser Institutionen gewährt all dies wenig Einblick. Das betrifft insbesondere die zentralen Fragen, ob also in solchen Fällen auch in normalen, durchschnittlich guten Ernte­jahren Getreide gekauft und verbilligt (an wen? [54]) abgegeben wurde und wie man mit diesen Institutionen Krisensituationen im Einzelnen meisterte. Ebenso offen bleibt zumeist, wie diese Kassen entstanden waren[55], ob an ihrem Ursprung immer eine (einzelne) euergetische Stiftung stand oder ob eine solche Kasse auch von städtischen Organen im Rahmen einer geplanten Risikofürsorge auf der Basis von Einkünften der Stadt[56] geschaffen und durch einzelne Stiftungen allenfalls noch ausgebaut worden war.

Für den Osten und speziell die Städte in der hellenistischen Zeit gewähren uns demgegenüber eine Reihe umfangreicher, ursprünglich nicht mit dem Ziel der Veröf­fentlichung auf Stein konzipierter Dokumente, wie Volksbeschlüsse oder Ehrungen verdienter Mitbürger, eine Reihe von detaillierten Einblicken gerade in diese Fragen.

Vergleichbare Informationen sind auch aus den juristischen Quellen nicht zu gewinnen[57]. Doch macht ein langes Zitat aus Ulpians Opiniones in den Digesten (L 8, 2, 2–6) deutlich, wie sehr solche Getreidefonds innerhalb der städtischen Haushalte geschützt waren und welche Bedeutung man ihnen nicht nur auf städtischer Ebene, sondern auch von Seiten des Kaisers zumaß: Nichts, was de frumentaria ratione festgelegt war, durfte für einen anderen Zweck verwendet werden. Geschah dies dennoch, war es mit Zins zurückzuzahlen. Eine sinnvolle Verwendung in einem anderen öffentlichen Zusammenhang, gegebenenfalls auch bona fide, änderte nichts daran. Einschlägige Rückstände waren immer als erste zu begleichen, gegebenenfalls durch Einschalten des Statthalters[58].

Aber nicht nur diese Institutionen zeugen von einer vom Risikobewußtsein geleiteten vorausschauenden Planung. Nach Arcadius Charisius gab es Städte im Römischen Reich, die von allen Landbesitzern in ihrem Territorium jährlich eine bestimmte Getreidequote pro Maßeinheit der Anbaufläche eintrieben [59]. Schon Ulpian erwähnt im Kontext von Rechten eines Nießbrauchers bei einer Erbschaft, daß Landbesitzer ihrer Gemeinde einen Teil der Ernte zu ermäßigtem Preis überließen: nam solent possessores certam partem fructuum municipio viliori pretio addicere[60].

Ein gewisser Antigenidas stiftete im 3. Jh. v. Chr. dem Demos von Koroneia 700 Drachmen, aus denen jährlich kurz nach der Ernte, vor Mitte September, Getreide billig erworben werden sollte, um es dann kurz vor oder während der nächsten Ernte zu verkaufen. Wurde ein Überschuß erzielt, ging er in die Kasse der Polis, ein Defizit sollte aus dieser ausgeglichen werden[61]. Der bekannte Euerget C. Iulius Demosthenes aus Oinoanda rühmte sich, daß er „mit den Verkaufsaktionen, die ich jährlich veranstalte, den Markt preiswerter mache und den Beamten / reichliche Verfügbarkeit von --- verschaffe“. Er brachte also in der 1400 m hoch gelegenen und dementspre­chend schwierig zu erreichenden Stadt Oinoanda regelmäßig Getreide auf den Markt, um eine Preissteigerung a priori zu unterbinden. Ferner schuf er eine weitere indirekte Sicherung, indem er einen speziellen Lebensmittelmarkt (ἀγορὰ βιωτική) erbaute.[62]

Wie ordnen sich die aus der Inschrift von Amantia bekannten Maßnahmen des P. Pomponius Aelianus in diesen Kontext ein? Wie Demosthenes hatte Aelianus das Risiko erkannt, das fehlende Infrastrukturbauten für eine Bergsiedlung bedeuteten[63] und deshalb das σειταποδοχ[εῖον] und den nicht mehr zu ermittelnden zweiten Bau errichtet. Diese Maßnahme war möglicherweise — das hängt davon ab, wozu πρότερον gehörte — die Konsequenz aus zwei anderen euergetischen Akten: Wie andere städtische Führungsmitglieder suchte er den konkreten Folgen einer solchen Getreidenot mit einem subventionierten Getreideverkauf zu einem Preis, der unter den aktuellen hohen lag, zu begegnen[64].

An diese zweite euergetische Tat schloß sich eine dritte an, deren Charakter wegen des fragmentarischen Zustands der Inschrift, insbesondere in Zeile 6, und der eigenwilligen Formulierung unsicherer bleibt. Erhalten ist: --- | τειμὴν ἐπὶ τῷ ἀμετάθετον εἶναι ∙ τὸ χρῆμα ∙ καθιΙ̣ ---. Tὸ χρῆμα bezeichnet in einschlägigen In­schriften eigentlich immer das Kapital, mit dem eine Maßnahme zur Sicherung der Getreideversorgung finanziert werden sollte, bzw. der daraus dann gebildete Spezialfonds[65]. Das auf τὸ χρῆμα doch wohl zu beziehende ἀμετάθετος kennzeichnet in den entsprechenden Inschriften etwas, was „unalterable, immutable“ (LSJ) sein sollte. Ein bestimmter Stiftungsfonds sollte also für nichts anderes verwendet werden können[66]. Eine solche anderweitige Verwendung zu verhindern, war, wie erläutert, auch eine stete Sorge der kaiserlichen Rechtsprechung. ΚαθιΙ̣ schließlich dürfte zu einer Form von καθιερόω (im Sinne von ‚einem Zweck widmen‘ [67]) gehört haben, keineswegs aber unbedingt einem Partizip, eher vielmehr einer finiten Verbform. Für das einleitende τειμήν schlug Michael Wörrle dem Autor eine sehr elegante Lösung vor: Er wies darauf hin, daß es immer wieder bezeugt ist, daß der Erlös eines Getrei­deverkaufes zum Kapital einer Stiftung gemacht wurde[68]. Aelianus hätte also den Erlös seines Getreideverkaufes benutzt, um eine Kasse zu schaffen, aus der in Zukunft Getreide aufgekauft wurde, um es im Notfall verbilligt auf den Markt zu werfen. Dieser Vorschlag verbindet zweifellos alle erhaltenen Worte zu einem sinn­vollen Zusammenhang. Exakte Parallelen für eine solche Verwendung einer in einer Krise gespendeten Getreidemenge und für den speziellen Einsatz zu dem genannten Zweck fehlen allerdings.

Auf diese Darstellung der Taten eines Euergeten folgt die wohl am schwersten zu verstehende Zeile 7 der ganzen Inschrift. Klar zu erkennen sind die Namen mehrerer Personen: vermutlich eines Lyko[phron][69], Sohn eines Herakleon (Λυκόφρ[ον]ο̣ς̣ τοῦ Ἡρακλέωνος υἱοῦ), und vermutlich eines Varianus (geschrieben als Barianos)[70] Sospes, eher als Sohn eines Sospes (Β̣αριανοῦ Σώσπιδος). Man möchte nämlich unterstellen, daß in ein und derselben Zeile derselben Inschrift die Namen in gleicher Weise angeführt wurden. Dann müßten Varianus und Sospes Namen ein und derselben Person sein. Ansonsten wäre der Artikel vor Σώσπιδος und ein υἱοῦ hinter dem Namen zu erwarten. Selbst wenn der erste Buchstabe der Zeile ein My ist, wie es Patsch vorschlug, ist dies wohl kaum, wie bisher immer geschehen, zu Μ(άρκου) aufzulösen. Einpraenomen ist nämlich nur bei einem römischen Bürger zu erwarten und dann müßte bei Nennung eines praenomen ein nomen gentile erscheinen.

Was sich hinter den übrigen Buchstaben in der Zeile verbirgt, wird zumindest beim ersten Blick nur zum Teil klar: Sicher scheint eine Form des Stammes διαταγ-, also „anordnen/Anordnung“, am ehesten wohl der Begriff διάταξις[71] selbst. Διάταξις kann den lateinischen Begriff constitutio wiedergeben[72], kann aber auch eine Verfügung jeglicher Art wie z.B. eine Stiftungsurkunde meinen[73]. Erkennbar ist weiterhin eine Form von ὑπογραφ-, also „unterschreiben/bezeugen“ bzw. der entspre­chenden Substantive. Bevor die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten dieser Zeile weiter erörtert werden, muß zunächst auf ein zentrales Element der letzten beiden Zeilen eingegangen werden[74].

Bei ihnen fällt sofort auf, daß sie in lateinischer Sprache abgefaßt sind. Gerade für eine „Beurkundung von seiten der Stadt“ [75] ist dies in einer griechisch verfaßten Gemeinde innerhalb einer griechischsprachigen Provinz nicht zu erwarten. Ebenso wenig überzeugt die von Patsch geäußerte und von Cabanes wiederaufgegriffene Vermutung, daß „sich in Alt-Pljoča eine lateinische Enklave befand“[76]. Wie sollte eine solche Enklave in einer griechischen Stadt von derartiger Bedeutung sein, daß sie sich in einer Monumentalinschrift verewigen konnte? Die Sprache ist auch nicht damit zu erklären, daß die Inschrift aus der zwar in Blickweite gelegenen, aber durch das tiefe Aoostal getrennten römischen Kolonie Byllis verschleppt wurde, denn dann würde umgekehrt das Griechische für den Haupttext erstaunen. Ein Brief eines römischen Statthalters ist ebenfalls fast ausgeschlossen, denn dieser verkehrte in einer griechischsprachigen Provinz mit den griechischsprachigen Städten seines Zuständig­keitsbereiches in deren Muttersprache.

Einen lateinischen Text würde man am ehesten von einem in Rom entstandenen Dokument, also vor allem einer kaiserlichen Verlautbarung — sei es in der Form eines Reskriptes, eines Ediktes oder Dekretes — erwarten. Denkbar wäre eine solche lateinische kaiserliche Verlautbarung ebenfalls im Rahmen einer Kaiserreise, wobei dann allerdings wiederum an einen Brief an eine griechische Gemeinde nicht zu denken wäre; denn der wäre dann wieder auf Griechisch abgefaßt worden.

Eine weitere Möglichkeit ist ein Edikt eines Statthalters. Im Gegensatz zu Statt­halterbriefen, die im Falle griechischer Adressaten immer in Griechisch abgefaßt waren, sind nämlich aus den kleinasiatischen Provinzen mehrere lateinische Edikte kaiserzeitlicher Statthalter erhalten geblieben. Es sind allerdings zu wenige, um sicher behaupten zu können, Edikte seien grundsätzlich primär in Latein ausgefertigt worden und alle griechischsprachig überlieferten seien nur Übersetzungen, zumal aus Aegyptus kein einziges lateinisches Edikt eines praefectus Aegypti bekannt wurde. Als solche lateinischen Edikte sind zu nennen: das Edikt des Sex. Sotidius Strabo Libuscidianus, Legat von Galatia in den ersten Jahren des Tiberius, das des Paullus Fabius Persicus, proconsul Asiae unter Claudius, das des L. Antistius Rusticus, Legat von Cappadocia et Galatia 92/3 n. Chr. und schließlich das des T. Aurelius Fulvius Boionius Antoninus, proconsul Asiae 134/5.[77] Demgegenüber finden sich bei Inschriften, die Edikte eines proconsul Asiae von 120/1 und eines von 208/9 aufzeich­neten[78] , nur lateinische Propositionsvermerke, die eigentlichen Texte waren also allem Anschein nach von vornherein auf Griechisch abgefaßt. Sehr unwahrscheinlich ist schließlich ein lateinisch abgefaßtes Gerichtsurteil eines Statthalters, da solche nur äußerst selten auf Stein festgehalten wurden [79].

Schließlich ist aber auch an eine statthalterliche subscriptio, also den kurzen Entscheid unter einer Eingabe beim Gouverneur, zu denken. Obwohl man nämlich gerade bei dieser schnellsten und weitverbreitesten Form des Entscheids in einer griechischsprachigen Provinz die griechische Sprache erwarten würde[80], hat zumin­dest noch ein Statthalter von Moesia inferior der Zeit Hadrians (?) eine solche Entscheidung auf Lateinisch verfaßt[81]. Zu einem solchen Dokument würde eine Form von ὑπογραφ- vorzüglich passen.

In einem solchen Zusammenhang ist es verlockend, die auf der Zeichnung zu findende Buchstabenfolge ΑΝΘẈΝA.ḶỊ zu ΑΝΘΥΠΑΤΟΥ, also ἀνθυπάτου, zu verbessern. Mehr als vier Buchstaben müßten nicht verändert werden. Es würde der abgekürzte Namen des Statthalters folgen, der dann offensichtlich ein Polyonymus gewesen wäre und auf den man deshalb nur mit den zwei wichtigsten seiner cogno­mina, aber nicht mit den übrigen Namensbestandteilen oder dem Titel verwiesen hätte. Unter den bekannten proconsules Macedoniae ist kein Varianus Sospes, doch kann dies bei unserem fragmentarischen Kenntnisstand kein gewichtiges Gegen­argument sein[82]. Ein cognomen Sospes könnte gut zu einem Senator passen. Unter den wenigen Belegen für Sospes finden sich nämlich gleich zwei für Senatoren[83].

Eine solche Lösung in genau dieser Form ist allerdings aus mehreren Gründen nicht möglich. Werner Eck wies daraufhin, daß eine Nennung eines Proconsuls in einem solchen Zusammenhang nur mit cognomina kaum zu erwarten ist. Vor allem aber zeigt der Abklatsch nach ΑΝΘ genau das, was auch die Zeichnung wiedergibt: ein Zeichen, das einem leicht verzerrten kursiven Omega ähnelt und oben durch einen runden Bogen geschlossen ist, und anschließend ein Ny. Die daraufhin folgenden zwei oder drei Buchstaben sind am Abklatsch nicht zu identifizieren, eine Lesung ΑΝΘΥΠΑΤΟΥ nicht zu bestätigen.

Allerdings könnte man diese Schwierigkeiten partiell überwinden, wenn man annimmt, daß sich hinter den ersten drei Buchstaben der unverständlichen Passage ein abgekürztes ἀνθ(υπάτου) verbirgt. Hinter den folgenden Buchstaben WΝA .++ wäre dann vor allem das nomen gentile desproconsul Macedoniae zu vermuten. Da das Beta von Barianus nicht sicher gelesen wurde (und der Abklatsch nicht weiterführt), kämen für dieses cognomen neben dem für Senatoren der Hohen Kaiserzeit eher erstaunenden Varianus[84] auch andere für Senatoren bezeugte cognomina auf -arianus in Frage, also z.B. Hilarianus, Ligarianus, Marianus, Pinarianus, Plarianus (wohl kaum Deiotarianus). Der auf der Zeichnung angegebene Worttrenner vor Β̣αριανοῦ war anscheinend nicht so sicher zu erkennen, als daß man diese Möglichkeit aus­schließen sollte. Keiner dieser Namen ist zwar bisher für einen proconsul Macedoniae bezeugt, aber das kann nun einmal bei unserem fragmentarischen Kenntnisstand kein Argument sein. Zu rechnen ist schließlich auch damit, daß das nomen gentile abge­kürzt war. Diese Passage zwischen διάταξις und dem Zeilenende wäre dann so etwas wie eine Überschrift zu den beiden folgenden lateinischen Zeilen gewesen: Anord­nung (constitutio) eines proconsul (Macedoniae), der mit (unter Umständen abge­kürztem) nomen gentile und zwei cognomina genannt wurde, in einer subscriptio [entschied er o.ä.].

Zu Beginn von Zeile 7 könnte man wie bei anderen bilinguen Dokumenten Angaben zu den Modalitäten der Publikation eines römischen Entscheides erwarten, also einen Hinweis auf den oder die zu diesem Zeitpunkt amtierenden städtischen Magistrate bzw. manchmal sogar deren Amtshandlung im Zusammenhang mit der Entgegennahme und Veröffentlichung einer Verlautbarung einer römischen Instanz[85]. Im Rahmen eines solchen Verständnisses könnte man in dem eingangs genannten Lykophron, Sohn eines Herakleon, den amtierenden eponymen städtischen Magistra­ten sehen — in Amantia anscheinend ein Prytane[86]. Hinter den zwei Hasten zu Beginn könnten sich die Reste eines ἐπί verbergen. Dem Abklatsch läßt sich jedoch kein sicherer Hinweis auf ein Pi entnehmen.

Worin bestand nun der Inhalt der letzten beiden lateinischsprachigen Zeilen, möglicherweise also einer subscriptio einesproconsul Macedoniae? Es ist die Rede von einer Strafe im Zusammenhang mit Getreide, die von einem Stadtrat beschlossen worden war — frumenti poenam ∙ constitutaṃ decret[o] ordi[nis]. Von jemandem wird gesagt, er habe bezahlen müssen (solvere debuit). Genannt wird weiterhin etwas, was in bezug auf Geld und Getreide festgelegt worden war: et pecuniae et frumenti nomine. Und schließlich wird auf die nächsten Kalenden des Monats August (ḳ(alendas) ∙ Augustas proximas) hingewiesen, also auf den nächsten 1. August. Der Akkusativ macht klar, daß etwas bis zu diesem Datum (ad oder ante) oder an diesem Datum (in) zu geschehen hatte [87].

Der zeitliche Vermerk erinnert an das schon erwähnte Edikt des L. Antistius Rusticus, Statthalter von Cappadocia et Galatia zu Beginn der 90er Jahre des 1. Jh.[88]. Bei einer wie oft unmittelbar vor der neuen Ernte besonders verschärften Getreide­knappheit hatte dieser angeordnet, alle Bewohner von Antiochia in Pisidien hätten am 1. August — in K(alendas) Aug(ustas) primas — alles Getreide, das sie nicht für den Lebensbedarf der eigenen familia und die neue Aussaat benötigten, zu einem von ihm festgesetzten Preis anzubieten. Man kann in den letzten Zeilen der Inschrift von Amantia eine ähnliche Regelung vermuten. Bei näherer Betrachtung wird eine solche These jedoch fraglich: Was der Dekurionenrat festgelegt hatte, war nicht das frumenti pretium, sondern eine frumenti poena. Weiterhin wurde darauf hingewiesen, daß jemand in der Vergangenheit etwas zu bezahlen hatte, nicht in Zukunft bezahlen müsse, wenn er etwas nicht beachte [89].

Alle diese Beobachtungen passen eher zu einem der oben skizzierten Szenarien: Ein für den Getreidekauf eingerichteter Fonds bzw. das für diesen bestimmte Getreide wäre von einem städtischen Magistrat umgewidmet worden und dieser Vorgang wäre vom Dekurionenrat (oder einer „Gruppe“ im Dekurionenrat) — möglicherweise angesichts einer Getreidekrise — aufgedeckt worden. Man hätte den Betreffenden zu einer Bereitstellung des Umgewidmeten verpflichtet und ihm zusätzlich wegen der zweckfremden Verwendung des Getreides eine Strafgebühr auferlegt. Beides hätte dieser verweigert, so daß sich der Dekurionenrat an eine römische Autorität gewandt hätte. Diese hätte die Entscheidung in einer möglicherweise als subscriptio zu bestimmenden Rechtsform bestätigt und dem Betreffenden auferlegt, Getreide und Strafgebühr endgültig bis zum 1. August zu zahlen. Zur Warnung vor erneuten derartigen Versuchen, die von Aelianus geschaffene Stiftung umzuwidmen, hätte man zentrale Passagen des römischen Entscheids nachträglich auf der Inschrift angebracht. Die andere Schriftart könnte entweder aus dem Bemühen um Authentizität durch Nachahmung der Schrift des römischen Dokumentes resultiert haben oder mit den Schwierigkeiten einer Anbringung auf einer bereits in ein Gebäude eingesetzten Inschrift zu erklären sein.

Die Probleme dieser Inschrift sind also keineswegs leicht zu lösen. Dementspre­chend sollten auch hinter den einzelnen Teilen der vorgeschlagenen Textpassagen Fragezeichen stehen bleiben:

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Aber auch ohne in jedem Fall endgültige Lösungen präsentieren zu können, wurde deutlich, wie wichtig die Inschrift unter den verschiedensten Aspekten ist: als einzig bekannte Bilingue aus dem heutigen Albanien, als Trägerin eines lateinisch abgefaß­ten Entscheids einer römischen Autorität, als Zeugnis für eine vergleichsweise unge­wöhnliche Stiftung und als testimonium für das Risikobewußtsein von Euergeten und städtischen Führungsschichten.

Bibliographie

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Wörrle 1988 = M. Wörrle, Stadt und Fest im kaiserzeitlichen Kleinasien, München 1988.

 

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Kommission für Alte Geschichte und Epigraphik
DAI München
Amalienstraße 73b
D-80799 München
haensch@aek.dainst.de

Rudolf Haensch

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Tafel 1

Tafel 2



[1] Patsch 1904, 37, 199f., so auch CIA. Nach Cabanes u.a. 2011, 27 befindet sich die Inschrift „en contrebas du rempart, du côté nord, à l’ombre d’un grand platane“. Cabanes u.a. 2011, 27 sprechen von „marbre“; „marmo greco“ bei Ugolini 1927, 197. Für Hinweise und Kritik danke ich den Teilnehmern der „Papyrologisch-epigraphischen Werkstatt“ am Institut für Alte Geschichte und Altertumskunde, Papyrologie und Epigraphik der Universität Wien am 11.6.2012. Auch Michael Wörrle, Victor Walser, Elias Sverkos, Christof Schuler, Dieter Nörr und Ansgar Teichgräber bin ich für eine kritische Durchsicht des Manuskriptes verbunden. Ein spezieller Dank gilt Peter Weiß (Kiel) und Ulrike Ehmig (Wien), die die verschiedenen Versio­nen des Aufsatzes immer wieder kommentierten. U. Ehmig hat die Inschrift auch für die „La­teinischen Inschriften aus Albanien“ aufgearbeitet und mit mir am Abklatsch die Lesung überprüft.

[2] E. Isambert, Itinéraire descriptif, historique et archéologique de l’Orient. Première partie : Grèce et Turquie d’Europe, Paris 18732, 860; dazu Cabanes u.a. 2011, 27. Zu Gaultier de Claubry jetzt R. Haensch – P. Weiß, Ein schwieriger Weg. Die Straßenbauinschrift des M. Valerius Lollianus aus Byllis, RM 118, 2012 (im Druck).

[3] Ugolini 1927, 197f.

[4] Cabanes u.a. 2011, 27f.

[5] Zur Forschungsgeschichte und zur Identifikation S. Anamali, Amantie, Iliria 2, 1972, 67–77.

[6] Nach Plin. nat. IV 35 waren die Amantes liberi (kein Hinweis bei Plin. nat. III 145).

[7] Prokop. De aedif. IV 4.

[8] Cabanes u.a. 2011.

[9] Die Zitate im Folgenden geben das auf Zeichnung und Abklatsch Erkennbare wieder, also nicht immer den Text der bisherigen Editionen. Ein alle Ergänzungsvorschläge zusammen­fassender neuer Text findet sich am Ende des Aufsatzes.

[10] Vgl. z.B. die Maße der bei Anm. 23 erwähnten Inschrift AE 1959, 172: 2,28 x 0,33 x 0,52 cm.

[11] Die Datenbank Searchable Greek Inscriptions (http://epigraphy.packhum.org/inscriptions/main) kennt kein zweites Beispiel.

[12] Vgl. die Parallele u. Anm. 22. Das erste und dritte ist in der erwähnten Datenbank sechsmal bezeugt, das zweite achtmal (bei insgesamt 46 Belegen). Das Iota dürfte wie in den Zeilen 5 und 6 ‚subskribiert‘ und nicht wie bei Τύχηι ἀγαθῆι adskribiert worden sein.

[13] Dazu insbesondere H. Ceka, Questions de numismatique illyrienne, Tirana 1972, 121–131.

[14] E. Meyer, Zur Geschichte des Wallis in römischer Zeit, BZG 42, 1943, 59–78, besonders 62–69, für Σεβαστοί speziell 68. Vgl. auch B. E. Thomasson, Zum Gebrauch von Augustorum, Augg. und Aug. als Bezeichnung der Samtherrschaft zweier Herrscher, ZPE 52, 1983, 125–135.

[15] So neben den Editionen z.B. G. Brizzi in TIR K 34, 14; M. Zahariade, Amantia in LGRC fasc. 3, 473; Solin 2011, 145, 159.

[16] Nicht, wie noch jüngst bei Cabanes u.a. 2011, 28 zu lesen: Publius Pomponius, fils de Publius Aelianus.

[17] Für Aelian- in der EDCS 463 Belege, für Pompon- gar 1530.

[18] Patsch 1904, 199; Ugolini 1927, 198; CIA 166; Cabanes u.a. 2011, 28.

[19] Für die Frage, wozu πρότερον gehört, s.u. bei Anm. 28.

[20] Die Angabe bei LSJ trifft immer noch zu, wie eine Suche in der Datenbank Searchable Greek Inscriptions zeigt.

[21] So jetzt auch Goffaux 2011, 97. Bei J. Arce – B. Goffaux (éd.), Horrea d’Hispanie et de la méditerranée romaine, Madrid 2011 ausführlich zu den archäologisch bisher bekannten horrea.

[22] IG II/III2 1281 gehört in einen ganz anderen Kontext, und bei TAM V 1, 257 wird nur von einem Diebstahl aus einem Getreidespeicher berichtet.

[23] AE 1959, 172; dazu jetzt Goffaux 2011.

[24] CIL II 2129 = ILS 1404 = CIL II2 7, 97; dazu B. Goffaux, Évergétisme et sol public en Hispanie sous l’Empire, Mélanges de la Casa de Velázquez 33, 2003, 225–247.

[25] CIL VIII 25895; zum Bau von horrea (publica) s. auch ILAlg. II 3, 7806.

[26] AE 2002, 1670.

[27] G. Rickman, Roman Granaries and Store Buildings, Cambridge 1971, 183.

[28] Zum Wortgebrauch von πρότερον s. z.B. I.Apollonia 193 frg. d Z. 7. Das voraus­gehende οὐδέτερον ἐχούσης [τ]ῆς πόλεως erfordert ein πρότερον eigentlich nicht unbedingt. Bedauerlicherweise wurden die Worttrenner in der Inschrift nicht so gesetzt, als daß sich mit ihrer Hilfe die Frage entscheiden ließe. Zum Begriff σειτοδεία jetzt M. Pazdera, Getreide für Griechenland. Untersuchungen zu den Ursachen der Versorgungskrisen im Zeitalter Alexan­ders des Grossen und der Diadochen, Münster 2006, 13–42.

[29] S. das Edikt des Antistius Rusticus (u. Anm. 46) und die auf der folgenden Seite zitierten Inschriften CIL XI 6117, cf. p. 1397; AE 1990, 888 = 1995, 1408 = Patras 53; generell Duncan-Jones 1974, 145f., vgl. 252, 345.

[30] Die folgenden Darlegungen beanspruchen keineswegs Vollständigkeit. Das ist in diesem Rahmen nicht zu leisten, zumal die entsprechenden Fragen nur selten systematisch erör­tert wurden und insbesondere von der französischen Forschung wenig über die „Grenze“ der römischen Eroberung der hellenistischen Welt hinweg verfolgt wurden.

[31] U. Fellmeth, Hungersnöte in den Städten des römischen Kaiserreiches, in: E. Olshausen – H. Sonnabend (Hrsg.), Stuttgarter Kolloquium zur historischen Geographie des Altertums, Stuttgart 1998, 314.

[32] Ein Tableau des Denkbaren bieten auch die seit 374/3 v. Chr. in Athen für die Getreideversorgung zuständigen Amtsinhaber und das, was über ihre Tätigkeit bekannt ist: J. Engels, Das athenische Getreidesteuer-Gesetz des Agyrrhios und angebliche `sozialstaatliche´ Ziele in den Maßnahmen zur Getreideversorgung spätklassischer und hellenistischer Poleis , ZPE 132, 2000, 99–101 mit einer sehr übersichtlichen Zusammenstellung.

[33] Syll.3 354 bzw. 495; zu beiden A. V. Walser, Bauern und Zinsnehmer, München 2008, 303–309. Parallelen bei A. Wilhelm,Zu griechischen Inschriften, AEM 20, 1897, 75f., J. und L. Robert, La Carie II. Le plateau de Tabai et ses environs, Paris 1954, 322, Wörrle 1988, 67 Anm. 95.

[34] CIL XI 379 = ILS 6664.

[35] CIL XI 5635 = ILS 6640.

[36] CIL XI 6117, cf. p. 1397. P. Erdkamp, The Grain Market in the Roman Empire, Cambridge 2005, 312 übersieht den entscheidenden Punkt, daß eine Getreideknappheit vorlag. Ursache für das Geschehen konnte in den Provinzen auch nur eine Konventssitzung sein: SEG 35, 1365. Mehrfache Abgabe des Getreides zum ermäßigten Preis: ABSA 23, 1918–1919, 72–81 Nr. 7. Abgabe des eigenen Getreides unter dem Marktpreis und Zuwendung an die Stadt, damit diese Getreide einkaufen konnte: IG X 2, 2, 53.

[37] AE 1990, 888 = 1995, 1408 = Patras 53. Vgl. auch aus Nordafrika: CIL VIII 9250, cf. p. 1974 = ILS 6879; AE 1928, 23 (beide Rusguniae); AE 1913, 159 = ILAlg. II 3, 7943.

[38] Dig. L 1, 8; vgl. L 8, 7 (Sent. des Ps.-Paulus).

[39] Daß drei der unter Dig. XLVIII 12, 3 (de lege Iulia de annona) überlieferten Rege­lungen von Mark Aurel und Lucius Verus stammen (ferner die gerade diskutierte Passage Dig. L 1, 8; aus Marcianus, De iudiciis publiciis), ergibt sich daraus, daß Papirius Iustus anschei­nend zumindest schwerpunktmäßig nur die Konstitutionen aus der Regierungszeit Mark Aurels sammelte. Es bleibt fraglich, ob dies ein Indiz für die Schwere der in ihrer Herrschafts­zeit Italien treffenden Hungersnot ist, die auch in der Historia Augusta (v. Marci 8, 4f.) und in Inschriften (CIL V 1874 = ILS 1118; vielleicht einschlägig auch CIL XI 377; vgl. W. Eck, Die staatliche Organisation Italiens in der hohen Kaiserzeit, München 1979, 264) faßbar ist.

[40] XLVIII 12, 3 pr.

[41] Zu aequum im Zusammenhang mit Getreidekrisen s. das Edikt des Antistius Rusticus (Anm. 46).

[42] So auch E. Lo Cascio, The role of the state in the Roman economy: making use of the new institutional economics, in: P. F. Bang – M. Ikeguchi – H. G. Ziche (ed.), Ancient Economies, modern methodologies. Archaeology, comparative history, models and institutions, Bari 2006, 230f.

[43] Syll.3 354, dazu Walser wie o. Anm. 33.

[44] Das möchte Wiemer 1997, 201 allerdings ausschließen.

[45] Dig. XLVIII 12, 3, 1.

[46] Wiemer 1997. Für andere Beispiele s. A. Jördens, Statthalterliche Verwaltung in der römischen Kaiserzeit. Studien zum praefectus Aegypti, Stuttgart 2009, 129–131 mit der Diskus­sion von P. Oxy. XLVII 3339 und XLII 3048.

[47] Für den Mechanismus, mit dem solche Regelungen Erfolg hatten, s. die von Armin Eich angeführte frühneuzeitliche Parallele: A. Eich, Die politische Ökonomie des antiken Griechenland (6.–3. Jahrhundert v. Chr.), Köln, Weimar, Wien 2006, 229f.

[48] Wie oben schon erläutert, kann hier nicht auf andere Magistrate wie Agoranomen oder ähnliches eingegangen werden, die sich entsprechend lokaler Entwicklungen im Rahmen ihrer Tätigkeit neben oder anstelle von Sitonai regelmäßig um Getreidekrisen bzw. die Fürsorge gegen solche kümmerten.

[49] Zusammengestellt bei Strubbe 1987 und Strubbe 1989. Für die hellenistische Zeit Migeotte 2010, speziell 305–329; ein besonders aufschlußreiches Beispiel: Syll.3 344 = Welles 3 §§ 10–11.

[50] Dabei bietet die Zahl der Belege — 68 sichere Beispiele für σιτωνία/σιτῶναι aus dem griechischen Teil des Reiches nach Strubbe 1989, 99 und 35 Belege für curator annonae nach der EDCS (davon allerdings 20 aus Korinth) sowie 13 für curator frumenti und verwandte Formulierungen — einen Hinweis, daß auch im Westen, zumindest in Italien, immer wieder mit einer speziellen Magistratur für öffentliches Getreide gesorgt wurde.

[51] Dig. L 4, 2. Vgl. auch den cur(ator) pec(uniae) annon(ariae) in CIL X 5928 = ILS 6264, den cur(ator) pec(uniae) frum(entariae) IIII in CIL XI 4579 = ILS 6633, den praep(ositus) p(ecuniae) frum(entariae) in CIL IX 2354 = ILS 6512 und Herodian VII 3, 5 mit Erdkamp 2008, 111f. S. ferner I.Ital. III 1, 1. Schließlich setzen auch die unten diskutierten Regelungen bei Dig. L 8, 2–6 eine solche Kasse voraus.

[52] So auch Strubbe 1989, 101f.

[53] Vgl. z.B. ABSA 27, 1925–26, 227–234 F 3 Z. 7f.

[54] In den oben angeführten Fällen, in denen von der annona plebis gesprochen wird (der Begriff auch in CIL IX 3923 = ILS 6536), waren es offensichtlich nur die Bürger der Ge­meinde, nicht alle Bewohner ihres Territoriums.

[55] Vgl. dazu Strubbe 1989, 110, ein besonders ausführliches Beispiel: Buckler 1937; für private Stiftungen in solche Kassen neben den von Strubbe gesammelten Quellen für den Osten Duncan-Jones 1974, 209 für Italien. Z.B. angesichts der dort genannten Inschriften CIL IX 4686 und X 1217 (= ILS 5651) ist Erdkamp 2008 Anm. 8 nicht verständlich.

[56] Vgl. u. bei Anm. 59 und 60.

[57] Dementsprechend wenig weiterführend W. Langhammer, Die rechtliche und soziale Stellung der Magistratus municipales und der Decuriones in der Übergangsphase von sich selbstverwaltenden Gemeinden zu Vollzugsorganen des spätantiken Zwangsstaates (2.–4. Jahr­hundert der römischen Kaiserzeit) , Wiesbaden 1973, 125f., 150f., 176f., 246.

[58] Vgl. auch Dig. L 8, 12, 2 (wiederum Papirius Iustus). Das änderte natürlich nichts daran, daß sich die römischen Autoritäten unter Umständen auch einmal genau ein solches Umwidmungsrecht nahmen: Nigdelis – Souris 2005, p. 24 Z. 33f.

[59] Dig. L 4, 18, 25. Vgl. auch CIL VIII 9415 = 21077.

[60] Dig. VII 1, 27, 3.

[61] Migeotte 2010, 332–341 und 343–358 (SEG 43, 205). Delos hatte 209 v. Chr. die alte Praxis aufgegeben, erst angesichts drohender Getreidekrisen Getreide aufzukaufen, um es dann verbilligt abzugeben. Statt dessen wurde von da an jährlich Getreide dann erworben, wenn es am billigsten war, um es in den Zeiten der höchsten Preise zu einem mäßigen Preis auf den Markt zu werfen, s. z.B. G. Reger, The Public Purchase of Grain on Independent Delos, Classical Antiquity 12, 1993, 300–334 sowie Migeotte 2010, 315–318.

[62] SEG 38, 1462 Z. 9–10: Ποιοῦμαι κατ’ ἐνιαυτὸν διαπράσεσιν τὴν ἀγορὰν ἐπευωνίζων καὶ τοῖς ἄρχου[σ]ιν παρέχων ἄφθον[ο]ν τὴν ΑΓ.....ΜΩΝ εὐχρηστίαν ἀγοράν τε βιωτικὴν κατεσκευακὼς. Zur ἀγορὰ βιωτική den Kommentar von SEG am Ort und v.a. Wörrle 1988, 66–68 mit Parallelen für das eine wie das andere.

[63] Dazu auch A. Zuiderhoek, Feeding the Citizens. Municipal grain funds and civic benefactors in the Roman East, in: R. Alston – O. van Nijf (ed.), Feeding the Ancient City, Leuven 2008, 168.

[64] Beides auch Maßnahmen des unbekannten Euergeten in I. Eph. VII 1, 3419.

[65] S. im Katalog bei Strubbe 1987, 47–76 die Nummern: 5, 19, 28, 47, 48, 49, 51, 54, 61, 62. Grundsätzlich z.B. Laum 1914, 140.

[66] Unter den Zeugnissen bei Strubbe 1987 Nr. 54 (Buckler 1937 aus dem Jahr 237). Daneben z.B. OGIS 331 = I.Pergamon I 248; Ch. Kokkinia, Die Opramoas-Inschrift von Rhodiapolis. Euergetismus und soziale Elite in Lykien, Bonn 2000, p. 29 V E Z. 9–13; I.Didyma 331; I.Smyrna 711; I.Magnesia 116.

[67] Zu καθιερόω Laum 1914, 120, vgl. 133 und speziell BCH 1885, 127f. Nr. B; L. Migeotte, Un fonds d’achat de grain à Coronée, in: Boeotia antiqua III. Papers in Boiotian history, institutions and epigraphy in memory of Paul Roesch, Amsterdam 1993, 11–23 (= Migeotte 2010, 331–341) Z. 1.

[68] Z.B. Plb. XXXI 31 (25), 1; P. Herrmann, Neue Urkunden zur Geschichte von Milet im 2. Jahrhundert v. Chr., IM 15, 1965, 71–90 (SEG 36, 1046; Milet VI 3, 1039); dazu die Parallelen a. O. 79f. sowie K. Bringmann, Schenkungen hellenistischer Herrscher an griechi­sche Städte und Heiligtümer, II 1. Historische Auswertung, Berlin 2000, 190–194.

[69] Vgl. LGPN III A 280.

[70] Solin 2011, 145 faßt Barianus als eigenen Namen auf. A. O. 161 auch zu Varianus.

[71] Das Ξ wäre, wie durchaus üblich, als Z geschrieben worden. Von der kleinen Quer­haste, die gewöhnlich in der Mitte angebracht war, ist allerdings auf dem Abklatsch nichts zu erkennen.

[72] H. J. Mason, Greek Terms for Roman Institutions, Toronto 1974, 36, 129f. und insbe­sondere P. Herrmann, Kaiserliche Garantie für private Stiftungen, in: W. Eck – H. Galsterer – H. Wolff (Hrsg.), Studien zur antiken Sozialgeschichte, Köln, Wien 1980, 339–356, hier 344–356. Aus dem einen ohnehin unklaren Beispiel JHS 33 (1913) 337–346 n. 17 kann man gegen Mason a. O. 130 auf keinen Fall schließen, daß „διατάξεις of persons other than the emperor should be viewed as decreta“.

[73] Vgl. Laum 1914, 125; Wörrle 1988, 25f.

[74] Am Abklatsch sind erhebliche Teile der Lesung der letzten Zeile nicht zu überprüfen, ebenso führt er am Ende von Zeile 8 nicht weiter (auch pecuniae bleibt fraglich). Besonders unerklärlich bleibt das TISI in der bei Patsch 1904, 200 gedruckten Zeichnung, das weder in der Vorlage für diese Zeichnung (dort nur IS) noch in der Umschrift von Patsch selbst zu finden ist, und von dem sich auch auf dem Abklatsch keine Spur findet (schon IS bleibt fraglich).

[75] Patsch 1904, 200.

[76] Patsch 1904, 200; übernommen von P. Cabanes (Dir.), M. Korkuti – A. Baçe – N. Ceka, Carte archéologique de l’Albanie, Tirana 2008, 205.

[77] Für eine Liste aller bekannten Edikte kaiserzeitlicher Statthalter Nigdelis – Souris 2005, 119–126 (dort auch die Nachweise); für die der praefecti Aegypti R. Haensch, Quelques obser­vations générales concernant la correspondance conservée des préfets d’Egypte, in: J. Desmulliez – Ch. Hoët-Van Cauwenberghe – J.-Ch. Jolivet (éd.), L’étude des correspondances dans le monde romain de l’Antiquité classique à l’Antiquité tardive : permanences et mutations, Lille 2010, 95–113.

[78] I.Eph. VII 3217 Z. 47; SEG 32, 1149 Z. 37.

[79] R. Haensch, Typisch römisch? Die Gerichtsprotokolle der in Aegyptus und den übrigen östlichen Provinzen tätigen Vertreter Roms. Das Zeugnis von Papyri und Inschriften , in: H. Börm u.a. (Hrsg.), Monumentum et instrumentum inscriptum, Stuttgart 2008, 118f. Zu einem notwendigerweise lateinisch verfaßten Testament eines römischen Bürgers passen die ersten Worte der letzten Zeile nicht.

[80] So wie dies auch in Aegyptus der Fall war (abgesehen von einigen Standardpetitionen nach der constitutio Antoniniana): R. Haensch, Die Bearbeitungsweisen von Petitionen in der Provinz Aegyptus, ZPE 100, 1994, 487–546. Eine lateinische Petition von Soldaten war natürlich etwas anderes: PSI IX 1026, cf. p. 49f. = CPL 117.

[81] SEG 19, 1963, 476 = IScythMin 378. Subscriptiones von Statthaltern anderer grie­chischsprachiger Provinzen als Aegyptus wurden nur selten auf Stein festgehalten bzw. blieben ebenso selten auf andere Weise erhalten; für eine Liste R. Haensch, Das Statthalterarchiv, ZRG RA 100, 1992, 259f., dazu jetzt AE 2009, 1391.

[82] B. E. Thomasson, Laterculi praesidum I 2, III, Göteborg 1990. 20092.

[83] S. I. Kajanto, The Latin Cognomina, Helsinki 1965, 158 und 232. Dazu zuletzt Solin 2011, 159 und 161. Zu Sospes im griechischen Bereich insbesondere H. Solin, Analecta Epigraphica CCXVI–CCXXII, Arctos 38, 2004, 163–205, 186.

[84] Vgl. aber Septimius Varianus (PIR2 S 494; Caracalla) und den Epistrategen Iunius Varianus (I 613; 131).

[85] Vgl. z.B. unter den Petitionen an Kaiser und Statthalter T. Hauken, Petition and Response, Bergen 1998, p. 172 (Dagis) Kolumne III b; p. 223 (Takina) Z. 54–57; p. 164 (Kavacik) Z. 42f. Ein besonders ausführliches Exemplar: SEG 32, 1149 (Mandragoreis) Z. 37–47.

[86] Ugolini 1927, 195f. Nr. 17 = Cabanes u.a. 2011, 25 Nr. 12 (cf. BE 1973, 261).

[87] Für das auf der Zeichnung vor ḳ(alendas) scheinbar zu erkennende Lambda gibt es auf dem Abklatsch kein Äquivalent. Die Zeichnung sollte anscheinend nur einen Steinschaden wiedergeben.

[88] Wiemer 1997.

[89] Für die dann fällige Formulierung z.B. CIL VI 35876.