Herbert Heftner


Hopliten und Hippeis unter dem Regime
der ‚Dreißig Tyrannen‘ in Athen




I

Bekanntlich hat die dreißigköpfige Oligarchenjunta, die vom Sommer 404 bis ins Frühjahr 403 hinein die Macht in Athen ausgeübt hat und unter dem Namen der ‚Dreißig Tyrannen‘ in die Geschichte eingegangen ist, den Versuch gemacht, die Bürgerschaft Athens in einem ihren politischen Grundsätzen entsprechenden Sinne neu zu formieren: Wir finden in der Überlieferung die Nachricht, dass die Dreißig eine Liste von dreitausend Männern erstellten, „die an der Regierung teilhaben sollten“;[1] wir erfahren weiters, dass eine einfach als „Hippeis“ bezeichnete Reitertruppe bei der Exekution der von den Dreißig gefällten Entscheidungen eine wichtige Rolle gespielt hat. [2] Die Charakteristik dieser Gruppen und die Kriterien, an denen sich die Zugehörigkeit zu einer von ihnen orientierte, werden in den Quellen nicht explizit zur Sprache gebracht, allerdings liegt im Hinblick auf die generellen Zielsetzungen athenischer Oligarchen (wie sie sich etwa in dem den Dreißig vorangegangenen Regime der ‚Vierhundert‘ von 411 manifestierten) a priori die Annahme nahe, dass die Dreitausend aus den Kreisen jener Bürger, die von ihrer Vermögenslage her mindestens Hoplitenstatus beanspruchen konnten, rekrutiert werden sollten, [3] die Hippeis aber aus den zum Reiterdienst qualifizierten Klassen.

Nun hat György Németh im Rahmen seiner grundlegenden Monographie zur Geschichte der athenischen Oligarchien von 404/403 [4] der Frage nach der inneren Struktur der athenischen ‚Bürgerschaft‘ (das heißt des von den Oligarchen als der Teilhabe an ihrem System für würdig erachteten Personenkreises) unter den Dreißig eine eingehende Untersuchung gewidmet und in diesem Zusammenhang wichtige neue Erkenntnisse und Hypothesen zur Charakteristik der ‚Dreitausend’ wie auch der Hippeis geliefert und, darauf aufbauend, ein neues Modell für die von den Oligarchen intendierte hierarchische Gliederung des Bürgerschaftskörpers zur Diskussion gestellt.

In den folgenden Ausführungen soll eine Bewertung dieser Hypothesen unternommen und, davon ausgehend, der Versuch gewagt werden, die Rolle der athenischen Oberklassen zur Zeit der Oligarchien von 404–403 einer neuen kritischen Betrachtung zu unterziehen.

II

Bei seinen Bemühungen, das Wesen der genannten ‚Dreitausend’ und der Hippeis näher zu bestimmen, nimmt Németh seinen Ausgang von einem Versuch, die Gesamtzahl der athenischen Hopliten im Jahre 404 zu bestimmen. Zur Grundlage seiner Überlegungen macht er dabei eine Angabe der pseudo-lysianischen Polystratosrede, derzufolge bei der Erstellung der Liste der ‚Fünftausend’ im Jahre 411 statt der angestrebten Fünftausender-Richtzahl in Wirklichkeit neuntausend Bürger eingeschrieben worden seien.[5] Durch die Kombination dieser Angabe mit einer Reihe anderer Überlegungen und Indizien kommt er zu dem Schluss, dass die Zahl der Bürger vom Hoplitenzensus zu Beginn des Dekeleischen Krieges etwa zehntausend, im Jahre 404 immer noch achttausend betragen habe, eine Rechnung, die sich in etwa mit den Ergebnissen der Kalkulationen von Barry S. Strauss deckt,[6] aber deutlich niedriger liegt als etwa die seinerzeit von A. W. Gomme errechneten Größen. [7]

Meines Erachtens stehen der Gewinnung auch nur annähernd gesicherter Zahlenwerte mehrere schwer zu überwindende Unsicherheitsfaktoren entgegen: zum einen haben wir keinerlei Gewähr, dass jener Katalogisierungsvorgang des Jahres 411, bei dem als Kandidaten für die Mitgliedschaft bei den ‚Fünftausend’ insgesamt neuntausend Männer namhaft gemacht wurden, tatsächlich eine Erfassung der Hoplitenklasse in ihrer Gesamtheit dargestellt hat, [8] zum anderen müssen wir für die Endphase des Dekeleischen Krieges damit rechnen, dass in Notsituationen an sich für den Hoplitendienst qualifizierte Männer als Ruderer auf der Flotte eingesetzt worden sind,[9] sodass von den Verlusten der Arginusenschlacht und der Aigospotamoi-Katastrophe ein beträchtlicher, aber nicht genau quantifizierbarer Anteil auf die Hopliten entfallen sein muss.[10] Angesichts dieser Ungewissheiten, zu denen noch die anzunehmende Wirkung der Kriegsnotlage auf den wirtschaftlichen Status vieler Bürger hinzuzuzählen wäre,[11] würde sich der Versuch, die 404 gegebene Zahl von Hopliten-Bürgern aus dem Status von 411 abzuleiten, selbst dann verbieten, wenn wir die neuntausend Katalogisierten von [Lys.] 20,13 tatsächlich mit den zum Hoplitendienst qualifizierten Athenern gleichsetzen könnten.

Man wird daher gut daran tun, hinsichtlich der Hoplitenzahl etwas mehr Zurückhaltung zu üben, als dies in der Forschung der letzten Jahre üblich gewesen ist; letztlich wird man nicht mehr sagen können, als dass ihre Gesamtzahl auch im Jahre 404 die von den Oligarchen als Richtwert für die Gruppe der politisch Berechtigten festgesetzte Ziffer dreitausend um mehr als das Doppelte, vielleicht sogar das Dreifache überstiegen haben muss. [12]

Aus dieser Tatsache lässt sich das fundamentale Prinzip ableiten, von dem sich die Dreißig bei der Neukonstituierung der Bürgerschaft leiten ließen: Die unter ihrer Ägide initiierte Katalogisierung der ‚Dreitausend’ orientierte sich nicht an bestehenden Zensusqualifikationen, sondern zielte von vornherein darauf ab, aus der Gesamtheit der Hopliten eine im Sinne der Machthaber als brauchbar beziehungsweise politisch zuverlässig zu bewertende Minderheit auszusondern und die in diese Kategorie fallenden Bürger als politisch privilegierte Elite im Staate zu konstituieren.

Der Frage nach den hinter dieser Entscheidung stehenden Motiven und den möglichen Gründen für die oligarchische Selbstfixierung auf die Zahl dreitausend hat sich Németh mit beeindruckender Gründlichkeit und Gedankenschärfe gewidmet; es gelingt ihm, wesentliche, bislang nicht hinreichend beachtete Aspekte der unter den Dreißig gegebenen bürgerrechtlichen Situation herauszuarbeiten.

Dazu gehört zunächst die Tatsache, dass sich die bürgerrechtlichen Maßnahmen der Dreißig (Erstellung der Liste der ‚Dreitausend’; Ausweisung der übrigen Bürger aus Athen) in einem durch „chaotische Verhältnisse“ geprägten Umfeld vollzog, in dem der bürger- wie auch der besitzrechtliche Status vieler Athener im Unklaren lag und der Gefahr eines abrupten Wechsels unterworfen war.[13] Diese Unsicherheit war zunächst die Folge der Kriegswirren und der Rückkehr der unter der Demokratie Verbannten, sie muss durch die Maßnahmen der Dreißig, die alle nicht zur Gruppe der ‚Dreitausend’ gehörenden Bewohner von Athen per Dekret aus dem Stadtgebiet verbannten,[14] enorm verschärft worden sein. Zusätzliche Verwirrung dürfte die von den Dreißig bei der Erstellung der Liste der Dreitausend befolgte Geheimhaltungspolitik gestiftet haben: Nach Aussage der aristotelischen Athenaion Politeia haben die Machthaber diese Liste geheim gehalten und immer wieder abgeändert. [15]

Angesichts dieser Sachlage wirft Németh mit Recht die Frage auf, wie diejenigen, die als zunächst nicht auf der Liste stehend aus Athen ausgewiesen, dann aber im Zuge einer Revision der Liste wiederaufgenommen worden waren, „erfahren haben, dass sie wieder nach Athen kommen durften, wie sie die in Beschlag genommenen Häuser zurückerhalten konnten und was mit denen passierte, die bereits in diesen Häusern wohnten“ — wesentliche Fragen, auf die freilich auch er mangels Quellen keine sicheren Antworten geben kann. Immerhin kann er auf der Basis der durch die nach dem Versöhnungsabkommen 403 getroffenen Maßnahmen gegebenen Analogie die Vermutung wagen, dass die nach Revision der Liste wieder Aufgenommenen entweder von vornherein eine Kompensation auf Staatskosten erhielten oder wenigstens auf eine solche Anspruch hatten, falls sie sich nicht mit den Okkupanten über einen Rückkauf des früheren Eigentums zu einigen vermochten.[16]

Das wäre eine plausible Lösung, aber vielleicht hat sich das Problem in der von Németh angenommen Schärfe gar nicht gestellt, weil die Zugehörigkeit des Einzelnen zum Kreis der ‚Dreitausend’ zumindest ab einem gewissen Zeitpunkt doch deutlicher feststand, als uns der Verfasser der Athenaion Politeia suggerieren möchte. Wir brauchen nicht zu bezweifeln, dass es in der Phase der Erstellung der Liste von Seiten der Dreißig viel Heimlichtuerei und beständige Revisionen gegeben hat, aber Xenophons Berichte von einberufenen Versammlungen der ‚Dreitausend’[17] und von ihrem Einsatz als organisiertes Hoplitenkorps der Oligarchie während des Bürgerkrieges [18] setzen voraus, dass zumindest in der Praxis zu den jeweils gegebenen Zeitpunkten kein Zweifel darüber bestanden hat, wer zu den ‚Dreitausend’ gehörte und wer nicht, und das gleiche gilt im Grunde auch für das Dekret über die Ausweisung aller nicht zu den Dreitausend Gehörigen aus der Stadt.[19] Entweder haben sich also die Machthaber nach einer Periode der Unklarheit und der Manipulationen doch zur Publikation einer offiziellen Liste der ‚Dreitausend’ bereitgefunden, oder aber es hat eine breite Gruppe von Männern gegeben, die aufgrund von persönlichen Beziehungen zum Kreis der Machthaber und informellen Versicherungen aus diesem Kreis auch ohne offizielle Bestätigung fest davon ausgehen konnten, als Mitglieder der unter dem Namen ‚Dreitausend’ subsumierten privilegierten Statusgruppe akzeptiert zu werden, und die sich daher auch vom Vertreibungsdekret nicht betroffen zu fühlen brauchten. In jedem Fall aber wird es spätestens nach dem Auftreten der von Thrasybulos geführten Widerstandsbewegung keine großen Veränderungen in der Zahl und Zusammensetzung des Kreises der politisch Privilegierten mehr gegeben haben, da die Dreißig nunmehr auf deren Loyalität und Kooperation angewiesen waren[20] und sowohl eine massenhafte Exklusion bisheriger Mitglieder als auch eine umfassende Aufnahme neuer Männer die Truppe in Unruhe versetzt hätte. Wir dürfen daher davon ausgehen, dass jedenfalls in der Spätphase des Dreißiger-Regimes allgemein Klarheit darüber geherrscht hat, wer zum Kreis der Dreitausend gehörte und wer nicht.

III

Hinsichtlich der inneren Zusammensetzung der Dreitausend und ihres Verhältnisses zur athenischen Ritterschaft bringt Németh eine interessante Neudeutung in Vorschlag: Während die Forschung bisher davon ausging, dass die Angehörigen der zum Reiterdienst qualifizierten Klassen (natürlich nur, soweit sie den Dreißig zuverlässig genug erschienen, um mit politischen Rechten ausgestattet zu werden) in die Körperschaft der Dreitausend inkludiert waren, [21] geht er davon aus, dass die in der Kavallerie des Oligarchen-Regimes dienenden Männer in die Zahl der Dreitausend nicht eingeschlossen gewesen seien. Sie hätten vielmehr eine statusrechtlich eigenständige Körperschaft gebildet und in der politisch-sozialen Hierarchie des von den Oligarchen neukonstituierten Bürgerschaftskörpers eine „Zwischenstufe zwischen den Tyrannen und den Mitgliedern der 3000“ innegehabt.[22]

Wir werden uns mit den Quellenstellen, auf die Németh diese Hypothese stützt, noch im Detail auseinanderzusetzen haben (siehe unten). Zunächst jedoch ist gleichsam präliminar die Frage zu klären, wieweit die Dreißig die Angehörigen der athenischen Oberschicht in den von ihnen neuformierten Bürgerschaftskörper einbezogen haben: Haben sie, dem gängigen Selbstverständnis aller oligarchischen Bewegungen gemäß, grundsätzlich die Klassen der zum Reiterdienst verpflichteten Vermögenden in ihrer Gesamtheit als zur Teilhabe an ihrem Staatswesen berechtigt angesehen (was natürlich ein exkludierendes und repressives Vorgehen gegen einzelne deklariert oppositionell gesinnte Oberschicht-Angehörige nicht ausschließen würde) oder haben sie, analog zu ihrem Vorgehen bei der Einbeziehung der Hoplitenklasse, auch im Bereich der beiden oberen Klassen selektiv nur die aus ihrer Sicht ideologisch kompatiblen Personen in den Kreis der politisch Berechtigten einbezogen?

Um in dieser Frage einer Klärung näher zu kommen, haben wir zunächst zwei Problemkomplexe näher ins Auge zu fassen, die die grundsätzliche Position der athenischen Oberschichten am Ende des 5. Jh. betreffen: die politische Haltung der athenischen Oberklassen und ihre zahlenmäßige Stärke.

IV

Was die politische Haltung der athenischen Oberschichten betrifft, haben wir zunächst eine ganze Reihe von Zeugnissen, die auf eine weite Verbreitung demokratiekritischer Einstellungen innerhalb dieser Kreise hindeuten: Es sei nur auf die Einschätzung des Autors der pseudoxenophontischen Athenaion Politeia verwiesen, derzufolge alle Angehörigen der Oberschicht von Natur aus der Demokratie feind seien oder sein müssten, [23] sowie auf die Tatsache, dass die Umsturzbewegung des Jahres 411, die schließlich zur Einsetzung des Vierhunderter-Regimes führte, ihren Ausgang von einer Konspiration der höheren Ränge des Athenerheeres auf Samos nahm, die explizit auf die Stimmungslage der sich als Elite verstehenden Leiturgieträger Bezug nahm.[24] Nicht weniger signifikant ist der Umstand, dass uns selbst für den Kreis jener Aristokraten, die sich zu einer Adaption an die demokratischen Verhältnisse bereit fanden, massive Vorbehalte gegen das demokratische System und seine ideellen Grundlagen überliefert sind.[25] Dieser demokratieskeptischen Einstellung der Oberschichten entsprach auf Seiten der Demosmehrheit und ihrer politischen Wortführer ein stets präsentes Misstrauen gegen die Aristokraten, das von den Komödiendichtern oftmals wortreich beklagt wurde und auf Seiten der Betroffenen den Anstoß für die Entwicklung diverser apologetischer Propagandastrategien gegeben hat.[26] Von den Ursachen, die dieser Entfremdung zwischen Aristokratie und Demosmehrheit zugrunde liegen, hat Németh die wichtigsten und am unmittelbarsten erlebten in eingehender Argumentation herausgearbeitet, nämlich die in den Oberschichten spätestens zur Zeit des Peloponnesischen Krieges weitverbreitete Empfindung eines krassen Missverhältnisses zwischen den ihnen im Interesse des Gemeinwohls abverlangten Leistungen (Leiturgien, eisphorai, permanenter Einsatz bei der Verteidigung Attikas) und der nicht von Anerkennung, sondern von Misstrauen und Kritik bestimmten Haltung der Demosmehrheit ihnen gegenüber.[27] Zusätzlich zu diesem grundlegenden Quell der Unzufriedenheit scheint die Erbitterung der Oberschichten gegen den regierenden Demos noch durch eine Reihe weiterer gravamina verschärft worden zu sein; zu nennen sind vor allem die für die besitzenden Schichten besonders belastende Kriegspolitik, der gefühlte Bedeutungsverlust durch die zunehmende Stärkung der explizit demokratischen Elemente der Staatsordnung und schließlich die zumindest subjektiv als bedrohlich empfundene Konkurrenz durch die aufkommenden Politiker des ‚Demagogen‘-Typus.[28]

Solange der Peloponnesische Krieg andauerte, konnte die antidemokratische Missstimmung bis zu einem gewissen Maß durch das Bewusstsein für die Erfordernisse der Kriegsnotlage und den Willen zur energischen Fortführung des Krieges ausbalanciert werden; [29] mit der Kapitulation Athens fielen diese Hemmungen weg, und der Weg zur offenen oligarchischen Parteinahme war für die athenischen Eliten frei.

Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen und Stimmungslagen ist es nicht verwunderlich, dass im späten 5. Jh. die Oberschichten die hauptsächliche Zielgruppe aller oligarchischen Propagandabemühungen darstellten,[30] und dass sie allgemein als die quasi naturgegebenen Träger und Profiteure einer oligarchischen Ordnung angesehen wurden.[31] Dementsprechend hat sich auch das Regime der Dreißig in seiner Selbstdarstellung als eine im Interesse vornehmlich dieser elitären Schichten installierte Sachwalterschaft präsentiert und ist auch tatsächlich weithin als solche empfunden worden. All dies würde an sich die Annahme nahe legen, dass die athenischen Ritterklassen in ihrer breiten Mehrheit das Regime befürwortet und eine feste Stütze gebildet haben müssten.

Dem stehen jedoch Zeugnisse gegenüber, denenzufolge keineswegs alle Angehörigen der Oberklassen die Oligarchie in ihrer radikalen Form befürworteten. Nach Angabe der aristotelischen Athenaion Politeia setzten sich 404 von den „Angesehenen“ (γνώριμοι) nur jene für die radikale Form der Oligarchie ein, die entweder unter der Demokratie verbannt gewesen oder in die (als notorisch demokratiefeindlich bekannten[32] ) Hetairien eingebunden waren, die übrigen aber seien für die „patrios politeia“ eingetreten, worunter wir im gegebenen Zusammenhang wohl kein in sich geschlossenes Verfassungsmodell, sondern ein recht allgemein gehaltenes politisches Sentiment zugunsten eines ‚gemäßigten Mittelweges’ zu verstehen haben. [33] Diese strikte Unterscheidung zwischen radikalen, hetairieverbundenen Oligarchen und traditionalistischen „patrios-politeia“-Anhängern fügt sich in die generelle Tendenz einer im Athen des 4. Jh. weit verbreiteten Strömung der politischen Publizistik, die darauf abzielt, die respektablen, ‚gemäßigten‘ Teile der Oberschichten nach Möglichkeit von der Verantwortung für die Exzesse der Dreißig zu entlasten; sie kann daher nicht unbesehens für die reine Wahrheit genommen werden, verdient es aber doch, bis zu einem gewissen Grad ernst genommen zu werden. Immerhin haben wir die Tatsache anzuerkennen, dass die Dreißig im Laufe ihrer Gewaltherrschaft eine ganze Anzahl profilierter Angehöriger der sozialen Eliten teils verbannt,[34] teils getötet[35] haben.

Leider bietet uns die Überlieferung über die Zeitpunkte und Motive dieser Verbannungs- und Tötungsbeschlüsse keine klaren Aussagen, sie gibt uns jedoch gewisse Indizien an die Hand, die uns eine Vorstellung davon vermitteln, welche Kategorie von Oberschicht-Angehörigen die Zielgruppe der Verfolgungen dargestellt hat.

Xenophon lässt Theramenes in der Rede, in der er sich vor der oligarchischen Bule gegen die Anklagen des Kritias zu verteidigen versucht, betonen, dass es sich bei von dem ihm namhaft gemachten Getöteten aus den Reihen der καλοὶ καὶ ἀγαθοί um Männer gehandelt habe, die von Charakter und Lebensführung her den Respekt ihrer Standesgenossen verdient und sich niemals mit der ‚demagogischen’ Strömung der Demokratie gemein gemacht hatten — Leute, die — so scheint der xenophontische Theramenes zu implizieren — in einer tatsächlich auf die Interessen der Oberschicht ausgerichteten Ordnung durchaus ihren Platz hätten finden können.[36] Allerdings lässt Xenophon anklingen, dass diese Männer keine Scheu getragen hätten, sich unter dem früheren demokratischen System für die Polis zu engagieren und in dieser Hinsicht als repräsentativ für eine größere Gruppe ihrer Standesgenossen gelten könnten.[37]

Meines Erachtens haben wir in diesen Äußerungen des Zeitgenossen Xenophon (die Frage, ob und wieweit in ihnen Inhalte der tatsächlichen Verteidigungsrede des Theramenes widergespiegelt sind,[38] kann in unserem Zusammenhang außer Acht bleiben) den Schlüssel zu einem Hauptmotiv der von den Dreißig gegen führende Männer der athenischen Oberschicht betriebenen Verfolgungsmaßnahmen vor uns: Es ging den radikalen Oligarchen darum, jene politisch ‚gemäßigten’ Oberschicht-Angehörigen, die sich seinerzeit als gegenüber der Demokratie kompromissbereit erwiesen hatten, durch eine gezielte Verfolgungs- und Terrorkampagne teils zu eliminieren, teils einzuschüchtern. Offenbar waren sich die Dreißig sehr deutlich der Tatsache bewusst, dass nur ein Teil der athenischen Eliten ihre radikal-oligarchischen Standpunkte teilte, dass es unter den καλοὶ καὶ ἀγαθοί viele gab, die sich vor 404 (im Gegensatz zu den Geboten der oligarchischen ‚reinen Lehre‘) im Rahmen des demokratischen Systems engagiert hatten und die in ihren verfassungspolitischen Zielsetzungen in Richtung einer ‚gemäßigten‘ Kompromisslösung inklinierten.[39] Aus der Sicht der Dreißig stellten diese gemäßigten Kreise der Aristokratie in einer Oligarchie unzuverlässige Elemente dar, die man entweder durch Konzessionen für das Regime zu gewinnen oder durch Terror und Einschüchterung niederzuhalten versuchen konnte. Die bereits erwähnten Verbannungen und Hinrichtungen zeigen, dass die Dreißig (besser gesagt, die innerhalb des Gremiums dominierende Radikalengruppe um Kritias und Charikles) der zweiten dieser Alternativen den Vorzug gegeben haben: Die für das Regime typische Politik der Exklusion und gewaltsamen Unterdrückung ist demnach nicht nur im Umgang mit den Hopliten, Theten und Metöken, sondern auch gegen die politisch nicht zuverlässigen Angehörigen der beiden oberen Klassen zur Anwendung gekommen.

Für die in unserem Zusammenhang relevante Fragestellung ergibt sich dabei die Erkenntnis, dass wir auch für die Ritterklassen mit einem selektiven Vorgehen der Dreißig zu rechnen haben: aller Wahrscheinlichkeit nach haben die Tyrannen aus der Gesamtheit der Angehörigen der beiden obersten Klassen nur jene Männer zur Teilhabe an ihrem Staatswesen (das heißt zur Mitgliedschaft in den Dreitausend) herangezogen, die ihnen aufgrund ihrer politischen Einstellung oder auch persönlicher Beziehungen die Gewähr einer loyalen Haltung zum oligarchischen System zu bieten schienen; [40] die übrigen wurden nicht nur von der Teilhabe am System ausgeschlossen, sondern hatten mit Repressionsmaßnahmen bis hin zur Tötung zu rechnen.

V

Es stellt sich nunmehr die Frage, wie groß wir uns die Gesamtheit der im Jahre 404 in Athen lebenden Angehörigen der vermögenden Bürgerklassen vorzustellen haben. Leider stehen aufgrund der unklaren und ungenügenden Quellenlage gerade in dieser Frage der Gewinnung sicherer Erkenntnisse schwer überwindbare Hindernisse entgegen. Németh hat mit gutem Grund auf die Schwierigkeit hingewiesen, aus den für bestimmte Kriegseinsätze überlieferten Zahlen der dabei eingesetzten Kavalleristen Rückschlüsse auf die Gesamtzahl der zum Reiterdienst verpflichteten Klassen zu ziehen. Er verweist darauf, dass grundsätzlich nicht jeder Hippeus beziehungsweise Hippotrophos auch tatsächlich als Reiter gedient hat, und führt in diesem Zusammenhang einige Fälle an, in denen der Überlieferung zufolge Angehörige der pferdebesitzenden Schichten als Hopliten Kriegsdienst leisteten.[41] Im Gegenzug seien mög­li­cher­wie­se bei anderer Gelegenheit auch Männer, die von Haus aus den vermögensrecht­lichen Reiterzensus nicht erfüllten, als Kavalleristen eingesetzt worden.[42]

Das sind sehr berechtigte Überlegungen, und sie machen klar, dass uns die im militärischen Kontext überlieferten Kavalleristenzahlen keine sichere Basis für die zahlenmäßige Stärke der (als soziale Kategorie verstandenen) Oberklassen bieten können.

Einen anderen, von Németh bevorzugten Ansatz für die Rekonstruktion der Stärke der Oberklassen bietet die Zahl der Trierarchien: Németh verweist darauf, dass nach dem Zeugnis der pseudoxenophontischen Athenaion Politeia pro Jahr vierhundert Trierarchien zu besetzen waren; [43] er verbindet dies mit einigen Rednerzeugnissen, denenzufolge ein- und derselbe Mann Jahr für Jahr die Trierarchie zu erfüllen hatte[44] und zieht daraus den Schluss, „dass die trierarchiepflichtige Klasse um 404 v. Chr. nicht größer als etwa 400 Mann war“. Diese Kalkulation erscheint jedoch unsicher, wenn wir bedenken, dass in den genannten Rednerstellen nur jeweils ein individueller Fall dargelegt wird. Auch wenn das Prinzip, dass der einzelne Trierarchiepflichtige nur in jedem zweiten Jahr zur Trierarchie herangezogen werden konnte, erst im 4. Jh. zur fixen Regel gemacht wurde, scheint es doch denkbar, dass schon vorher bei der Verteilung der Leiturgien in gleichsam informeller Weise die unterschiedliche Finanzkraft der einzelnen Verpflichteten (und vielleicht auch das unterschiedliche Maß der mit den diversen Trierarchien verbundenen Belastung) berücksichtigt und somit nicht jeder Trierarch wirklich jedes Jahr herangezogen wurde; [45] trifft dies zu, so hätten wir mit mehr als 400 trierarchiepflichtigen Athenern zu rechnen. Es ist außerdem zu bedenken, dass die Trierarchie wohl die finanziell aufwändigste unter den Leiturgien war, aber nicht die einzige: es gab andere Arten von den im Interesse der Polis zu erbringenden Geldleistungen, die das Vermögen der sie Erbringenden nicht so massiv belasteten, ihnen aber sicherlich ebenso den Anspruch vermittelten, sich der Elite der ‚Leistungsträger‘ zuzählen zu dürfen.

Diese Unsicherheiten lassen die Chance, die zahlenmäßige Stärke der athenischen Oberklassen auf der Basis von Reiterkontingenten oder Trierarchien zu kalkulieren, als zweifelhaft erscheinen.

Es kommt bei all dem aber noch ein Gesichtspunkt hinzu, der uns über den rein zensusrechtlichen Ansatz hinausführt. Gerade in der im Jahre 404 gegebenen Gesamtlage haben wir mit der Existenz einer großen Anzahl von mehr oder weniger verarmten Aristokraten zu rechnen: Die Verwüstung des attischen Landes im Dekeleischen Krieg, die Beeinträchtigung von Handel und Gewerbe, schließlich auch der Verlust des Seereiches hatten die gesamte Bevölkerung Attikas in drastische Notlagen gestürzt,[46] im Falle der wohlhabenden Bürger war dieser Effekt durch die Kriegsabgaben und Leiturgien noch verstärkt worden, so dass zahlreiche einstmals wohlhabende Athener bis zum Kriegsende 404 ihre Vermögenswerte auf einen Bruchteil des einstigen Standes hatten zusammenschrumpfen sehen.[47] Im Falle derjenigen Oberschicht-Angehörigen, die sich in der Umsturzbewegung von 411 engagiert hatten, kamen zu den Lasten und Schäden des Krieges noch die Folgen politischer und gerichtlicher Verfolgung zur Zeit der Demokratie hinzu.[48]

All dies spricht dafür, dass es im Sommer 404 in Athen eine relativ zahlreiche Gruppe von mehr oder weniger ‚verarmten’ Aristokraten gegeben hat, Männern, die in ihrem familiären Hintergrund, ihrer Erziehung, ihrem Habitus und ihrer Lebensführung der Oberschicht der Ritterklassen angehörten, deren aktuelle Finanzmittel aber mehr oder weniger deutlich unterhalb der diesen Standards entsprechenden Werte lagen. Schon im Hinblick darauf, dass diese zu einem Lebensstil der ‚genteel poverty‘ verdammten Deklassierten wohl noch mehr als der Durchschnitt ihrer einstigen Standesgenossen zur Erbitterung gegen die Demokratie und ihre politischen Führer geneigt gewesen sein werden, werden wir davon ausgehen können, dass die Dreißig solche Leute für der Beteiligung an ihrem System würdig erachtet und sie ohne Rücksicht auf die aktuelle Vermögenslage auch für den Dienst in ihren Reiterformationen herangezogen haben.

VI

Vor dem Hintergrund der oben herausgearbeiteten Erkenntnisse und Überlegungen haben wir nunmehr das bereits angesprochene Problem des Status und der Charakteristik der unter den Dreißig dienenden Reitertruppe näher zu betrachten.

Den Ausgangspunkt müssen dabei jene Quellenstellen bieten, die Németh zu der oben referierten Ansicht veranlassten, dass die Hippeis unter dem Regime der Dreißig nicht in den Kreis der Dreitausend einbezogen gewesen seien, sondern eine eigene, rangmäßig zwischen den Dreitausend und den Dreißig selbst angesiedelte Statusgruppe gebildet hätten.

Relevant sind hier vor allem zwei Stellen aus Xenophons ‚Hellenika’:

Zunächst Xen. hell. 2,4,2 wo es heißt, dass nach der Besetzung Phyles durch Thrasybulos’ Widerstandskämpfer „die Dreißig aus der Stadt auszogen mit den Dreitausend und der Reiterei“ (οἱ δὲ τριάκοντα ἐβοήθουν ἐκ τοῦ ἄστεως σύν τε τοῖς τρισχιλίοις καὶ σὺν τοῖς ἱππεῦσι) — eine Formulierung, die die Vorstellung suggeriert, dass der Zeitgenosse und Zeitzeuge Xenophon[49] unter den „Dreitausend“ und den „Hippeis“ zwei unterschiedliche Gruppen verstanden wissen wollte.

Einige Paragraphen weiter findet sich jedoch im Kontext des von den Dreißig an den Einwohnern von Eleusis vollzogenen Massakers eine Stelle, die im Gegensatz dazu eine Inklusion der Ritter in die Körperschaft der Dreitausend nahe zu legen scheint (Xen. hell. 2,4,9): „Am folgenden Tag beriefen sie die in der Liste verzeichneten Hopliten und die übrigen, die Reiter waren, ins Odeion“ (τῇ δ’ ὑστεραίᾳ εἰς τὸ ᾨδεῖον παρεκάλεσαν τοὺς ἐν τῷ καταλόγῳ ὁπλίτας καὶ τοὺς ἄλλους ἱππέας).

Németh erkennt bei der Bewertung der Aussagekraft dieser xenophontischen Äußerungen der erstgenannten Stelle entscheidendes Gewicht zu: sie bezeuge eindeutig, „dass die Anzahl der 3000 die Ritter nicht enthielt“, woraus sich in logischer Folge ergebe, „dass die Anzahl der athenischen Bürger in der Zeit der Tyrannen nicht 3000 war, sondern 3000 + die Politen, deren Namen auf der Liste der Ritter standen“.[50]

Diese Deutung scheint einiges für sich zu haben, zumal nicht nur die zitierte Stelle Xen. hell 2,4,2 (wenn wir sie wörtlich verstehen wollen), sondern auch andere Indizien auf eine Sonderstellung der ‚Hippeis‘ unter dem Regime der Dreißig hindeuten.

Auf der anderen Seite haben wir neben der zitierten Stelle Xen. hell. 2,4,9 eine ganze Reihe von Indizien, die dafür zu sprechen scheinen, dass nicht nur Hopliten, sondern auch Angehörige der oberen Zensusklassen auf der Liste der Dreitausend verzeichnet waren beziehungsweise dieser Körperschaft zugerechnet wurden (siehe unten).

Vielleicht lässt sich das Problem lösen, wenn wir die Rolle jener Gruppe, die Xenophon in 2,4,2 mit dem Begriff der ἱππεῖς bezeichnet, näher ins Auge fassen. Die einschlägigen Stellen in Xenophons Darstellung der Ereignisse von 403 (der einzigen, in der auf die Rolle dieser Reiter explizit eingegangen wird) lassen erkennen, dass die ἱππεῖς dort fast stets als aktive militärische Einsatztruppe gedacht sind: [51] sie erscheinen als bewaffneter Arm des Regimes nicht nur im Kampf gegen die Widerstandsbewegung der Phylekämpfer,[52] sondern auch bei der als ‚Polizeiaktion‘ geschilderten Razzia in Eleusis. [53] Als eigenständige politische Kraft scheinen sie erst nach dem Sturz der Dreißig aufgetreten zu sein, aber auch dann vollziehen sich ihre Aktivitäten in militärischen Formen, indem sie quasi im Alleingang die Sicherung der Stadtmauern übernehmen [54] und späterhin den Patrouillendienst gegen die im Umfeld der Stadt operierenden Streifscharen der Piräuskämpfer versehen.[55]

Es bietet sich das Bild einer effizienten, straff organisierten und politisch im oligarchischen Sinne gleichgeschalteten Reitertruppe. Ein Korps dieser Art kann man wohl kaum als Sammelbecken aller aufgrund ihrer Vermögenslage zum Ritterdienst verpflichteten Bürger ansehen. Viel eher haben wir hier an eine von den Machthabern handverlesene Elitetruppe zu denken, zusammengestellt aus jungen Männern, die körperlich für den Reiterdienst geeignet waren, in ihrer politischen Haltung als zuverlässige Oligarchen gelten konnten und nach Herkunft und Erziehung für eine herausgehobene Position im Rahmen eines sich als aristokratisch-elitär verstehenden Regimes qualifiziert waren.

Németh möchte diese Elite-Reitertruppe mit den in der aristotelischen Athenaion Politeia bezeugten „dreihundert peitschentragenden Gehilfen“ der Dreißig [56] und den von Kritias zur Einschüchterung des Gerichtshofes beim Theramenesprozeß aufgebotenen dolchtragenden νεανίσκοι[57] in Verbindung bringen; ihre Mitgliederzahl veranschlagt er aufgrund der erwähnten Athenaion-Politeia-Stelle wie auch anderer Indizien auf etwa dreihundert,[58] was dann in Verbindung mit den Dreißig einerseits, den Dreitausend andererseits, ein arithmetisch gegliedertes Gesellschaftsmodell nach der Formel 30 [Tyrannen] + 300 [Hippeis] + 3000 [Hopliten] ergeben hätte[59] — eine ansprechende Hypothese, die man angesichts der unklaren Überlieferungslage nicht für absolut gesichert, wohl aber durchaus für möglich halten können wird.[60]

Wie haben wir uns nun die Position dieses Elitekorps im Verhältnis zur Gesamtheit der athenischen Oberklassen vorzustellen? Hier ist im Hinblick auf seinen Charakter als Einsatztruppe zunächst davon auszugehen, dass nur Männer, die von ihrer körperlichen Eignung her für die Erfordernisse des aktiven Reiterdienstes geeignet waren, in die Truppe Aufnahme gefunden haben. Darüber hinaus können wir es schon im Hinblick auf die Analogie der Katalogisierung der Dreitausend für höchst wahrscheinlich halten, dass die Dreißig gerade bei der Auswahl der Mitglieder dieser Truppe, von deren Loyalität und Einsatzbereitschaft die Durchsetzung ihres politischen Willens abhing, auch nach Gesinnungskriterien selektiert und im Zweifelsfall der politischen Zuverlässigkeit den Vorzug selbst vor Abstammung und Reichtum gegeben haben. Die Annahme, dass man dabei auch Männer ins Reiterkorps aufnahm, die von ihrer aktuellen Vermögenslage her nicht imstande gewesen wären, die Kosten für Pferd und Ausrüstung allein aus eigenem Vermögen zu bestreiten, liegt schon im Hinblick auf die Existenz einer nicht unbeträchtlichen Zahl deklassierter Aristokraten (siehe oben) sehr nahe, und sie findet eine Bestätigung in der Tatsache, dass die Dreißig das in der Demokratie angewendete System des „Ausrüstungsgeldes“ (κατά­στα­σις), mittels dessen dem Kavalleristen die Anschaffung eines Pferdes erleichtert werden sollte,[61] beibehalten haben.[62]

Wenn, wie wir nach alledem annehmen dürfen, die Mitglieder des Reiterkorps eine selektiv nach den Bedürfnissen der Machthaber zusammengesetzte Körperschaft gebildet haben, so muss es konsequenterweise auch Angehörige der Pentakosiomedimnoi- und Hippeisklassen gegeben haben, die zwar nach Vermögenslage und Status für den Reiterdienst qualifiziert gewesen wären, tatsächlich aber nicht zum aktiven Dienst in den Reihen des Elitereiterkorps herangezogen wurden.

Dazu werden natürlich diejenigen Oberschicht-Angehörigen gezählt haben, die den Machthabern als politisch suspekt galten, die aber nicht oppositionell genug gesinnt waren, um von sich aus ins Exil zu gehen, Leute vom Schlage jener καλοὶ καὶ ἀγαθοί, deren Verfolgung der xenophontische Theramenes in seiner Verteidigungsrede beklagt.[63] Daneben aber haben wir mit der Existenz einer Gruppe von Personen zu rechnen, die eine rittermäßige Vermögensqualifikation hatten, im Sinne der Dreißig als politisch einigermaßen zuverlässig gelten konnten, aber aus diversen Gründen (Alter, körperliche Eignung, anderweitige Verpflichtungen, z. B. als Buleut oder Amtsträger) nicht in den Reihen des Elitereiterkorps dienten.

Es ist kaum anzunehmen, dass die Dreißig diesen distinguierten und systemkonformen Aristokraten die Teilhabe am Kreis der politisch Privilegierten versagt hätten; wir müssen daher davon ausgehen, dass zumindest die außerhalb des Reiterkorps stehenden Hippeis und Pentakosimedimnoi auf der Liste der Dreitausend verzeichnet waren; die Möglichkeit, dass darüber hinaus auch die aktiven Kavalleristen in die Dreitausend inkludiert waren, wird man nicht ausschließen können.

Für die Annahme, dass die Dreitausend nicht nur Hopliten, sondern auch die Angehörigen der sozial distinguierten Kreise umfassen sollten, lassen sich folgende Indizien geltend machen:

1) Theramenes’ Kritik an der Beschränkung des Bürgerstatus auf dreitausend Männer impliziert, dass die Dreitausend als Sammelbecken aller politisch Berechtigten (nicht nur der Hopliten) gedacht waren.[64]

2) In die gleiche Richtung deutet die von Xenophon wohl glaubwürdig überlieferte Streichung des Theramenes aus der Liste der ‚Dreitausend‘ durch Kritias, [65] die klar impliziert, dass auch Angehörige der trierarchischen Klasse und sogar die Mitglieder der Dreißig selbst auf dieser Liste verzeichnet waren.[66]

3) Die oben zitierte Passage in Xen. hell. 2,4,9, wo im gleichen Zusammenhang von ἐν τῷ καταλόγῳ ὁπλῖται und von ἄλλοι ἱππεῖς die Rede ist, wobei wir unter dem genannten Katalog wohl das Verzeichnis der Dreitausend zu verstehen haben. Die plausibelste Deutungsmöglichkeit für diese Stelle liegt wohl darin, unter den ἄλλοι ἱππεῖς jene Mitglieder der Dreitausend zu verstehen, die von ihrer Vermögenslage her oberhalb der in diese Körperschaft inkludierten Hopliten (der ἐν τῷ καταλόγῳ ὁπλῖται) positioniert waren, aber nicht im Reiterkorps der Dreihundert dienten. [67] Diese Männer hatten daher nicht an der in der vorangegangenen Passage (Xen. hell. 2,4,8) erzählten Überrumpelung der Eleusinier teilgenommen, wurden jetzt aber, da es nicht um militärische Aktion, sondern um die politische beziehungsweise richterliche Beschlussfassung ging, gemeinsam mit den übrigen (Hopliten-) Mitgliedern der Dreitausend zur Teilnahme an der Versammlung im Odeion einberufen.

4) Schließlich ist noch Xen. hell. 2,4,28 zu beachten, wo für die Zeit nach dem Sturz der Dreißig eine nach Sparta bestimmte Gesandtschaft „der Männer auf der Liste aus der Stadt“ (τῶν δ’ ἐν τῷ καταλόγῳ ἐξ ἄστεως) erwähnt wird. Wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass unter dem hier genannten κατάλογος die Liste der Dreitausend zu verstehen ist[68] und dass unter den οἱ ἐν τῷ καταλόγῳ hier auch die Angehörigen des Ritterkorps inkludiert gedacht sind, da gerade diese Gruppe unter dem Regime der Zehn einen starken politischen Einfluß ausübte. [69] Es hat demnach unter dem Regime der Zehn einen einheitlichen, umfassenden Katalog der politisch Berechtigten gegeben, der die Hopliten ebenso umfasste wie die diversen Kategorien der Reiterklassen.

Angesichts dieser Zeugnisse, die für eine alle politisch Berechtigten umfassende Liste der Dreitausend sprechen, wird man die Tatsache, dass Xenophon in 2,4,2 die Hippeis als gesonderte Kategorie neben den Dreitausend nennt, nicht überzubewerten brauchen; die von ihm in dieser Passage verwendete Ausdrucksweise erklärt sich wohl am besten aus der militärischen Perspektive, die der Darstellung zugrunde liegt: Für Xenophon kam es in der Schilderung des Zuges der Dreißig gegen Phyle nicht auf den rechtlichen Status der Beteiligten an, sondern auf ihre militärische Verwendung, und hierbei bildeten die Hippeis des Reiterkorps eben eine gegenüber dem Rest der Dreitausend eigenständige Kategorie und auch eine selbständig operierende taktische Einheit. So ist es verständlich, dass Xenophon sie im gegebenen Kontext von der Hauptmasse der Dreitausend abhebt. Natürlich hätte er die letzteren auch hier als Hopliten beziehungsweise „Hopliten von der Liste“ bezeichnen können, wie er es im weiteren Verlauf seiner Darstellung in einem vergleichbaren Kontext tut (hell. 2,4,10: ἐβοήθουν σύν τε τοῖς Λακωνικοῖς καὶ σὺν τοῖς ἱππεῦσι καὶ τοῖς ὁπλίταις), aber offenbar kommt es ihm an dieser Stelle, wo er erstmals einen Einsatz der Dreitausend in ihrer Eigenschaft als militärische Formation zu berichten hat, darauf an, deutlich zu machen, dass die Dreißig für die Phyle-Operation ihre gesamte Anhängerschaft in voller Stärke mobilisiert hatten.

VII

Aufgrund der obigen Überlegungen ergibt sich eine gegenüber dem von Németh vorgeschlagenen Schema leicht abweichende Einteilung: Wir können die von diesem Forscher ingeniös und überzeugend herausgearbeitete Sonderstellung des Hippeis-Korps akzeptieren, ebenso die Zahl Dreihundert als Normstärke dieser Reitertruppe und wohl auch das Prinzip einer von den Dreißig intendierten Gliederung des Bürgerschaftskörpers nach Zehnerpotenzen (30 — 300 — 3000), allerdings nicht die Vorstellung, dass die dreihundert Reiter außerhalb des Kreises der Dreitausend gestanden hätten. Vielmehr scheint es sich bei den Dreißig und den Dreihundert um das privilegierte Hundertstel beziehungsweise Zehntel einer von den Dreitausend gebildeten Gesamtheit gehandelt zu haben.

Es kann weiterhin als wahrscheinlich gelten, dass das Reiterkorps nicht alle von Haus aus zum Reiterdienst qualifizierten Angehörigen der Dreitausend umfasst hat: Wie oben bereits festgestellt, verstanden sich die Reiter nicht als Sammelbecken einer zensusmäßig definierten Oberschicht, sondern als eine zur Erfüllung militärisch-polizeilicher Aufgaben bestimmte und zu diesem Zweck in Bereitschaft gehaltene Einsatztruppe. Neben ihnen dürfte es eine durchaus nennenswerte Anzahl von Männern gegeben haben, die zwar zensusmäßig in den beiden oberen Klassen angesiedelt waren, dabei aber nicht im Reiterkorps dienten, sondern gemeinsam mit den von den Dreißig auserwählten Hopliten zur Masse der Dreitausend gehörten. Diese ‚normale’ Mehrheit der Dreitausend sollte im Gegensatz zur Einsatztruppe der Reiter nicht in erster Linie eine militärische Formation, sondern eine Art oligarchisch-reduziertes Gegenstück zur seinerzeitigen Polisbürgerschaft bilden, eine Gemeinschaft von Leuten, die zunächst einmal ihren privaten Geschäften nachgehen und nur im Kriegsfall oder im Zuge der Bekleidung öffentlicher Ämter (wie etwa der Mitgliedschaft in der Bule) aktiven Dienst für die Polis leisten sollten.

Im Hinblick auf diesen Unterschied liegt es auf der Hand, dass mit dem Dienst im Reiterkorps ein erhöhtes Sozialprestige einhergegangen sein muss, insofern hat Né­meths Vorstellung von den Rittern als der Mittelstufe in einem dreistufigen hierarchischen Gesellschaftsmodell (siehe oben) wohl ihre Berechtigung. Allerdings dürfen wir diese Hierarchie nicht als eine politische Überordnung der Ritter im Rahmen der politischen oder judiziellen Entscheidungsfindungsprozesse missverstehen: die diesbezüglichen Kompetenzen sollten (soweit es die Dreißig zuzulassen gewillt waren) der von den Dreißig ernannten fünfhundertköpfigen Bule zufallen,[70] die man sich wohl schon im Hinblick auf ihre hohe Mitgliederzahl als aus der Gesamtheit der Dreitausend (nicht etwa nur aus den Reiterklassen) bestellt zu denken hat. [71] Die Reiter hingegen hatten, wie ihre Rolle bei der Eleusis-Razzia zeigt, in dem von den Machthabern konzipierten System die exekutive Funktion wahrzunehmen; ihre Hauptaufgabe bestand darin, dem Willen der Dreißig unbedingte Geltung zu verschaffen, nötigenfalls auch gegen die Bule und die Dreitausend. Von daher erklärt sich die Erbitterung des Demos gegen alle, die auf der Liste der Reiter verzeichnet waren[72], ebenso wie ihre Wahrnehmung als ‚peitschentragende Gehilfen’ (μαστιγοφόροι ὑπηρέται) seitens der unter dem Regime der Dreißig lebenden und leidenden Athener, die dann in einem Teil der späteren Überlieferung ihren Niederschlag gefunden hat. [73]

VIII

Unter dem Kriterium der Nähe beziehungsweise Distanz zu den oligarchischen Machthabern betrachtet, lassen sich innerhalb der athenischen Oberklassen während der Oligarchien von 404/403 drei Hauptgruppen unterscheiden:

- Einerseits die Angehörigen des wahrscheinlich ca. 300 Mann starken[74] Ritterkorps, die als zuverlässige Oligarchen galten und deshalb für den Dienst in dieser Truppe ausgewählt worden waren. Über ihre Funktion und Rolle im Dienste der Dreißig ist oben bereits gehandelt worden. Hier sei nur vermerkt, dass sie sich auch nach dem Sturz der Dreißig als entschiedene Oligarchie-Befürworter erwiesen haben, indem sie sich allen Bestrebungen nach einer Versöhnung mit den Demokraten widersetzen und die Speerspitze des bewaffneten Widerstandes gegen die Piräuskämpfer bildeten (siehe oben).

- Zweitens diejenigen Angehörigen der oberen Zensusklassen, die nicht im Reiterkorps dienten, aber bei den Machthabern hinreichend in Gunst standen, um in die Reihen der privilegierten Dreitausend aufgenommen zu werden; dementsprechend war es ihnen möglich, nach der Ausweisung der nicht auf der Dreitausenderliste Stehenden in der Stadt zu bleiben. Dessen ungeachtet dürfte der Grad der Regimeloyalität zwischen den einzelnen Angehörigen dieser Gruppe stark differiert haben: Neben Leuten, die als zuverlässige Oligarchen gelten konnten, fanden sich Männer, die mit Erfolg bemüht waren, gegenüber dem Regime eine gewisse passive Distanz zu wahren und sich vor allem nicht in die Verfolgungsmaßnahmen der Tyrannen verwickeln zu lassen. Als ein typischer Vertreter der letztgenannten Gruppe kann wohl der Sprecher der fünfundzwanzigsten Rede des Corpus Lysiacum gelten, der in der anlässlich seines Dokimasieprozesses gehaltenen Verteidigungsrede zwar zugestehen muss, während der Herrschaft der Dreißig in Athen geblieben (und wahrscheinlich auch Mitglied der Dreitausend gewesen) zu sein,[75] aber betont, dass er während dieser Zeit weder ein Amt bekleidet noch sich einer Gewalttat schuldig gemacht habe.[76]

Der Fall dieses überlebenstüchtigen Semi-Opportunisten macht deutlich, dass auch relativ ‚lauwarme’ Oligarchie-Mitläufer eine Chance hatten, bei der Erstellung der Liste der Dreitausend berücksichtigt zu werden, zumindest dann, wenn sie den oberen Klassen entstammten. In diesen Fällen kamen wohl einerseits persönliche Beziehungen zu den Machthabern und ihrem Umfeld zum Tragen, andererseits dürfen wir bei den Dreißig durchaus auch mit einer aus einem oligarchisch-elitären Selbstverständnis entsprungenen Bereitschaft rechnen, möglichst viele der καλοὶ καὶ ἀγαθοί in das neue Regime einzubeziehen — ein Bestreben, das im Einzelfall sicherlich oftmals mit dem Misstrauen gegen politisch zu gemäßigte oder gar demokratisch angehauchte Aristokraten in Konflikt gestanden hat. So ist es nicht verwunderlich, dass die Dreißig sich in vielen Fällen bereitgefunden haben werden, Männer in die Liste der Dreitausend aufzunehmen, deren oligarchische Grundhaltung ihnen nicht hundertprozentig gesichert schien, dass sie aber gerade deshalb als eigentliche Stütze das Elitekorps der Hippeis aufzubauen bemüht waren.

- Damit kommen wir zur dritten Kategorie der Oberschicht-Angehörigen, zu denjenigen Männern, die aus der Sicht der Dreißig als potentielle Gegner eingestuft wurden.

Nehmen wir die namentlich bekannten Opfer der Dreißig und die Anführer des Widerstandes gegen das Dreißiger-Regime zum Maßstab, so dürfen wir annehmen, dass keineswegs nur entschiedene Demokraten in diese Kategorie fielen, sondern schon sehr früh auch ein Teil der von Haus aus gemäßigt-oligarchischen Kreise zu den Machthabern auf Distanz gegangen ist (oder, umgekehrt, von ihnen von Anfang an als nicht zuverlässig eingestuft worden ist): Es ist bezeichnend, dass sich unter den Anführern der Phylekämpfer Männer finden, die selbst nach 403 eine auf die Beschränkung der Macht der Demosmehrheit gerichtete Politik zu betreiben versuchten,[77] Seite an Seite mit jenen Demokraten, die wie Thrasybulos schon 411 den Ausgleich mit gemäßigt-oligarchischen Kräften gesucht hatten. Die Verfolgungs- und Exklusionspolitik der Dreißig (siehe oben) dürfte dann eine beträchtliche Anzahl Aristokraten ins Lager des Widerstandes getrieben haben, ebenso natürlich auch die mit den ersten Erfolgen der Piräuskämpfer zutage tretende Schwäche des Regimes. Wenn wir bei Xenophon lesen, dass die Widerstandskämpfer in der Zeit nach dem Sturz der Dreißig über eine Kavallerie in der Stärke von siebzig Mann verfügten,[78] so können wir dies als Hinweis darauf nehmen, dass sie insgesamt eine wesentlich größere Zahl von Angehörigen der Oberklassen in ihren Reihen gehabt haben müssen, da angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs und der allgemeinen Wirren die meisten der ins Lager von Thrasybulos’ Kämpfern geflüchteten Aristokraten kaum die Mittel zur Pferdehaltung gehabt haben können.[79] Dass die Piräuskämpfer unter diesen Umständen überhaupt siebzig Reiter ins Feld zu stellen vermochten, ist eine erstaunliche Tatsache, die auf die Präsenz eines starken Elements von Angehörigen der Reiterklassen in ihren Reihen schließen lässt.

Zusammenfassend lässt sich nach alledem die Feststellung treffen, dass die Dreißig nicht nur im Umgang mit der Hopliten-Mittelschicht, sondern auch den athenischen Oberklassen gegenüber ihre Politik an den Grundsätzen von Selektion und Exklusion ausgerichtet haben: auch von den καλοὶ καὶ ἀγαθοί sollten nur jene, die in Haltung und Gesinnung als zuverlässige Stützen der Oligarchie gelten konnten, in den Kreis der politisch Berechtigten aufgenommen werden. In der Praxis allerdings sahen sich die Oligarchen veranlasst, ihre Kriterien gerade den Aristokraten gegenüber nicht in voller Strenge zur Anwendung zu bringen; zum Ausgleich dafür gingen sie gegen vermeintlich oppositionell Gesinnte in demonstrativer Härte vor und versuchten, in Form des Reiterkorps eine Gardetruppe zu schaffen, deren Zuverlässigkeit über jeden Verdacht erhaben zu sein schien.

Es war eine Folge dieser Politik, dass in den politischen Kämpfen der Jahre 404 und 403 Angehörige der athenischen Oberklassen in beiden Lagern in beträchtlicher Anzahl vertreten waren; die Mehrheit von ihnen hat sich wahrscheinlich mehr oder weniger bereitwillig auf der Seite der Oligarchen positioniert, aber auch die Bewegung der Piräuskämpfer hat — spätestens nach ihrem Sieg über das Aufgebot der Dreißig — eine nennenswerte Zahl von Mitkämpfern aristokratischer Herkunft aufzuweisen gehabt. Diese Tatsache wird wohl einen der Hauptgründe dafür gebildet haben, dass die demokratische Mehrheit der Athener sich nach dem Versöhnungsabkommen nicht dazu hinreißen ließ, die Angehörigen der Oberklassen pauschal als Demosfeinde zu betrachten; ihre Abneigung fokussierte sich auf die aktiven Unterstützer der Dreißig und hier vor allem auf die einstigen Mitglieder des Reiterkorps. [80]

Eine weitere bedeutsame Folge der von den Dreißig betriebenen Exklusionspolitik lag darin, dass sich unter den γνώριμοι beider Seiten Persönlichkeiten befanden, die gegenüber dem radikalen Flügel ihres jeweiligen Lagers Distanz hielten und grundsätzlich zu einer Politik der Versöhnung bereit waren. Auf Seiten der Piräuskämpfer konnten die moderat Gesinnten ihr Gewicht schon von Anfang an in die Waagschale werfen, da die Versöhnung und der Schulterschluss mit den Gemäßigten hier der von Thrasybulos vorgegebenen offiziellen Linie entsprach; auf oligarchischer Seite erhielten die gemäßigten Kräfte erst nach dem Sturz der Dreißig die Möglichkeit, offen hervorzutreten, zunächst allerdings ohne Erfolg, da die Hippeis-Kavalleristen ihnen im oligarchischen Sinne entgegenarbeiteten.[81] Erst das unter spartanischer Ägide zustande gekommene Versöhnungsabkommen gab den Gemäßigten der Stadtpartei die Chance, sich als eigenständige Gruppe erkennbar zu machen und dem Demos gegenüber den Anspruch zu erheben, trotz ihrer Teilhabe am oligarchischen System nicht für die Verbrechen der Oligarchen verantwortlich gemacht zu werden. Dass es ihnen gelang, diesen Anspruch durchzusetzen, war nicht zuletzt der Unterstützung der Gemäßigten aus der ehemaligen ‚Piräuspartei‘ zu verdanken, die sich mit ganzer Kraft für die Beachtung der Amnestiebestimmungen einsetzten und darauf hinarbeiteten, möglichst alle Athener ungeachtet ihres politischen Vorlebens in die wiederhergestellte Demokratie zu integrieren.

Man hat in der Forschung bereits bemerkt, dass die Exklusions- und Verfolgungspolitik der Dreißig eine Hauptursache für den Fall ihres Regimes dargestellt hat, dabei allerdings vor allem auf ihre Politik gegenüber Mittelschichten und Metöken Bezug genommen.[82] Wie sich im Voranstehenden gezeigt hat, sind Exklusionsmechanismen seitens der Dreißig auch gegenüber den athenischen Oberschichten, die von Haus aus die Zielgruppe des oligarchischen Programms darstellen hätten müssen, in fühlbarem Maße zur Anwendung gekommen und haben gerade in diesem Bereich eine Wirkung entfaltet, die weit über die Epoche der Gewaltherrschaft und des Bürgerkriegs hinausreichte. Wir haben gesehen, wie die Dreißig nicht nur die potentielle Basis ihres oligarchischen Projekts geschwächt, sondern auch die Grundlagen für eine differenzierte Wahrnehmung der Oberschichten seitens des antioligarchisch gesinnten Demos gelegt haben. War zuvor bei der Masse der Athener im Gedenken an die Vorgänge von 411 ein generelles Gefühl des Misstrauens gegen die Aristokraten weit verbreitet gewesen, so hatten die Vorgänge von 404/3 deutlich werden lassen, dass nur ein Teil der Oberschichten tatsächlich im Lager der harten Oligarchen verwurzelt war. Gezeigt hatte sich weiters, dass diese radikalen Kreise sich am ehesten dann politisch neutralisieren ließen, wenn es gelang, die gemäßigten Elemente der Elite in eine ständeübergreifende Kooperation mit der Demosmehrheit und der Hoplitenmittelschicht einzubeziehen. Dies auf der Basis der wiederhergestellten demokratischen Ordnung bewerkstelligt zu haben, war zunächst das Verdienst jener Staatsmänner, die sich nach 403 konsequent für die Bewahrung der Amnestie und den Ausgleich zwischen den einstigen Bürgerkriegsgegnern einsetzten, doch die ideellen Voraussetzungen, die den Erfolg dieser Politik erst ermöglichten, waren letztendlich im Erlebnis der Oligarchenherrschaft von 404/403 zu suchen. So können wir unsere Untersuchung mit einer scheinbar paradox klingenden Feststellung beenden: Indem sie wesentlichen Teilen der athenischen Oberschichten die Integration in ihr System verweigerten, haben die Dreißig die Grundlagen für eine Integration dieser Schichten in die Bürgergemeinschaft der nach 403 erneuerten Demokratie gelegt.

 

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Institut für Alte Geschichte und Altertumskunde, Papyrologie und Epigraphik
Universität Wien
Dr. Karl-Lueger Ring 1
A-1010 Wien

Herbert Heftner

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[1] Xen. hell. 2,3,18 (vgl. 2,3,20.51; 2,4,1f. [Aristot.] Ath. Pol. 36,1); s. dazu P. Krentz, Xenophon. Hellenika II.3.11–IV.2.8, Warminster 1995, 127f. und P. J. Rhodes, A Commentary on the Aristotelian Athenaion Politeia, Oxford 1981, 448.

[2] Z.B. Xen. hell. 2,4,2.8f.

[3] Man vergleiche die ‘Fünftausend’ des Umsturzes von 411, die in der ihrer Einsetzung vorangehenden Agitation als die „körperlich und finanziell Leistungsfähigsten“ (Thuk. 8,65,3 οἳ ἂν μάλιστα τοῖς τε χρήμασι καὶ τοῖς σώμασιν ὠφελεῖν οἷοί τε ὦσιν) definiert wurden, was dann nach dem Sturz der Vierhundert auf „alle ὅπλα παρεχόμενοι“, das heißt alle Hopliten, erweitert wurde (Thuk. 8,97,1); s. dazu H. Heftner, Der oligarchische Umsturz des Jahres 411 v. Chr. und die Herrschaft der Vierhundert in Athen. Quellenkritische und historische Untersuchungen , Frankfurt/M. u. a. 2001, 114–116.146–153 (vgl. ebd. 279–312).

[4] G. Németh, Kritias und die Dreißig Tyrannen. Untersuchungen zur Politik und Pros­opo­graphie der Führungselite in Athen 404/403 v. Chr., Stuttgart 2006. Vgl. meine Rezension in diesem Band S. 369.

[5] [Lys.] 20,13 Πῶς δ’ ἄν <τις> γένοιτο δημοτικώτερος, ἢ ὅστις ὑμῶν ψηφισαμένων πεν-τακισχιλίοις παραδοῦναι τὰ πράγματα καταλογεὺς ὢν ἐνακισχιλίους κατέλεξεν, ...; s. dazu H. Heftner, Die Rede für Polystratos ([Lys.] 20) und die Katalogisierung der Fünftausend während des athenischen Verfassungsumsturzes von 411 v. Chr., in: P. Scherrer, H. Taeuber, H. Thür (Hrsg.), Steine und Wege. Festschrift für Dieter Knibbe zum 65. Geburtstag, Wien 1999, 222–224.

[6] B. S. Strauss, Athens after the Peloponnesian War. Class, Faction and Policy 403–386 B.C., London, Sydney 1986, 70–86.179–182, bes. 79f.

[7] A. W. Gomme, The Population of Athens in the Fifth and Fourth Century B.C., Oxford 1933, veranschlagt in der von ihm auf S. 26 gebotenen Tabelle die Zahl der Hopliten um das Jahr 400 auf elftausend, wobei er (in den zur Tabelle gegebenen Erläuterungen S. 27 Anm. 9) die für die Kriege des frühen 4. Jh. überlieferten Truppenzahlen als Grundlage seiner Kalkulation geltend macht (vgl. dazu P. J. Rhodes, Ephebi, Bouleutae and the Population of Athens, ZPE 38 [1980] 194f.). Hinsichtlich der für die Katalogisierung der Fünftausend von 411 überlieferten neuntausend Männer ([Lys.] 20,13, zit. o., Anm. 5) geht Gomme zwar gleichfalls davon aus, dass es sich dabei um eine Erfassung aller Männer vom Hoplitenzensus gehandelt habe, er vermutet jedoch, dass dabei nur Männer über Dreißig erfasst worden seien (Gomme a. O. 7).

[8] Ein Unsicherheitsfaktor liegt, wie bereits Strauss (wie Anm. 6) 79 erkannte, schon darin, dass nach [Lys.] 20,13 aus Gefälligkeit auch Leute eingeschrieben wurden, die eigentlich die Qualifikationskriterien nicht erfüllten — demzufolge müssten wir die Zahl der tatsächlichen Inhaber einer Hoplitenqualifikation geringer als neuntausend ansetzen. Aber es lassen sich auch Faktoren wahrscheinlich machen, die den gegenteiligen Effekt zur Folge gehabt haben dürften. Zum einen verdient meines Erachtens die von Gomme (wie Anm. 7) 7 ins Spiel gebrachte Möglichkeit, dass die genannte Katalogisierung nur die über dreißigjährigen Hopliten erfasst hat, ernst genommen zu werden, nicht nur weil eine solche Beschränkung in einem der in der aristotelischen Athenaion Politeia überlieferten Verfassungsentwürfe von 411 vorgesehen ist ([Aristot.] Ath. Pol. 30,2), sondern weil in der 411 gegebenen Situation des drückenden Kriegsnotstandes (vgl. Thuk. 7,28,2) die Exklusion der Zwanzig- bis Dreißigjährigen den Athenern die Chance geboten hätte, diese waffentüchtigste Altersgruppe ausschließlich für den Kriegsdienst einzusetzen (allerdings scheint die von Gomme a. O. in diesem Zusammenhang gebotene Berufung auf W. H. Ferguson CAH V [1st ed.] 338 auf einem irrigen Verständnis von Fergusons Ausführungen zu beruhen).

Weiters ist die Möglichkeit zu bedenken, dass sich ein Teil der Hopliten vielleicht gar nicht um die Aufnahme in die Körperschaft der Fünftausend bemüht hat: Da es bei der Katalogisierung der Fünftausend von Haus aus nicht um eine Erfassung aller Hopliten, sondern um die Definition eines im Vergleich zur Gesamt-Hoplitenschaft enger gezogenen Kreises von Elite-Angehörigen ging (s. dazu Heftner 2001 [wie Anm. 3] 146–148), werden sich wohl nicht wenige Hopliten gar nicht zur Registrierung gemeldet haben, sei es aus Furcht vor Zurückweisung oder auch aus Protest gegen eine ganz offenkundig antidemokratisch ausgerichtete Initiative.

[9] Dies ist für die zur Arginusenschlacht angetretene Flotte ausdrücklich bezeugt (Xen. hell. 1,6,24; vgl. Diod. 13,97,1; s. dazu P. Krentz, Xenophon, Hellenika I–II,3,10, Warminster 1989, 151f.), aber auch die im Jahre 405 bei Aigospotamoi vernichtete Riesenflotte von 180 Schiffen (Xen. hell. 2,1,20; Diod. 13,105,1; Plut. Lys. 9,6; vgl. Krentz a. O. 174) wird wohl nur durch vergleichbar drastische Rekrutierungsmaßnahmen adäquat zu bemannen gewesen sein.

[10] Im Lichte dieser Überlegungen wären die Berechnungen von Strauss (wie Anm. 6) 179, der unter den dreitausend nach der Schlacht von Aigospotamoi hingerichteten Athenern nur einen 6%-Anteil (das heißt ca. 180 Mann) von Hopliten- und höherem Status annehmen möchte, zu korrigieren.

[11] Auf die Möglichkeit, dass im Zuge der mit dem Dekeleischen Krieg einhergehenden Verarmung eine Anzahl von Hopliten in die Thetenklasse abgesunken sein dürfte, verwies bereits Strauss (wie Anm. 6) 81. Auf der anderen Seite können natürlich auch die zahlreichen frühzeitigen Todesfälle oftmals zum Aufstieg von manchen durch den Erbfall begünstigten ehemaligen Angehörigen der Thetenklasse in die Kreise der Hopliten geführt haben.

[12] Dies ist ja auch in der von Xenophon (hell. 2,3,19) und der aristotelischen Athenaion Politeia (36,2) überlieferten Kritik des Theramenes impliziert, dass die Dreißig mit der Beschränkung der Zahl der zu privilegierenden auf Dreitausend „zwei einander widersprechende Dinge“ tun würden, indem sie „eine Gewaltherrschaft einrichteten, die aber [zahlenmäßig] schwächer sei als die von ihr Beherrschten“.

[13] Németh (wie Anm. 4) 57.

[14] Dieses gegen die nicht auf der Liste der Dreitausend Stehenden erlassene Ausweisungsdekret der Dreißig bezeugt uns Xen. hell. 2,4,1; vgl. Lys. 25,22; s. dazu Krentz (wie Anm. 1) 139f. mit weiteren Belegen.

[15] [Aristot.] Ath. Pol. 36,2 ..., τὸν δὲ κατάλογον τῶν τρισχιλίων πολὺν μὲν χρόνον ὑπερεβάλλοντο καὶ παρ’ αὑτοῖς ἐφύλαττον τοὺς ἐγνωσμένους, ὅτε δὲ καὶ δόξειεν αὐτοῖς ἐκφέρειν, τοὺς μὲν ἐξήλειφον τῶν <ἐγ>γεγραμμένων, τοὺς δ’ ἀντενέγραφον τῶν ἔξωθεν.

[16] Németh (wie Anm. 4) 58.

[17] Xen. hell 2,3,20 [nach Xenophon noch vor der großen Terrorwelle und der Hinrichtung des Theramenes] und 2,4,9 [nach Beginn der Kämpfe gegen die Widerstandsbewegung in Phyle].

[18] Xen. hell. 2,4,2; vgl. ebd. 4,10; dazu weiter unten.

[19] S. o. Anm. 14; vgl. P. Krentz, The Thirty at Athens, Ithaca 1982, 64 Anm. 37, der spätestens für die Zeit des in Xen. hell. 2,4,2 beschriebenen Ausmarsches gegen Phyle mit einer Publikation der Liste der Dreitausend rechnet.

[20] Wie sehr sich die Dreißig dieser Tatsache bewusst waren, lässt sich in Xenophons Schilderung der Beteiligung der Dreitausend an der Verurteilung der Eleusinier noch recht deutlich erkennen, s. Xen. hell. 2,4,9f.

[21] S. z. B. Krentz (wie Anm. 19) 64 „The 3.000 included the cavalry“.

[22] Németh (wie Anm. 4) 68f.

[23] [Xen.] Ath. Pol. 1,4–10 (bes. § 5); 2,19f. S. dazu G. Weber, Pseudo-Xenophon. Die Verfassung der Athener, Darmstadt 2010, 76f. und 134–136.

[24] Thuk. 8,48,1, dazu Heftner (wie Anm. 3) 40f.

[25] Besonders deutlich ausgesprochen in Thukydides’ Version der Rede des Alkibiades in Sparta (Thuk. 6,89,3–6), s. dazu H. Heftner, Oligarchen, Mesoi, Autokraten: Bemerkungen zur antidemokratischen Bewegung des späten 5. Jh. v. Chr. in Athen, Chiron 33 (2003) 3–6.

[26] Für das generelle Misstrauen des Demos gegen die traditionellen Oberschichten s. z. B. Aristoph. ran. 718–737.1454–1456; in Reaktion darauf haben die kompromissbereiten Kreise der Oberschicht und ihre publizistischen Verteidiger sich bemüht, ihre bedingungslose Loyalität zum Demos herauszustreichen. Ein repräsentatives Beispiel dafür, wie sich diese apologetische Propaganda in der Historiographie niederschlagen konnte, bietet die Darstellung der Haltung des vom Demos zum Tode verurteilten Strategen Diomedon bei Diodorus Siculus (13,102,1–3).

[27] Németh (wie Anm. 4) 78–83.

[28] S. dazu Heftner (wie Anm. 25) 2f.

[29] Dass für einen großen Teil der Oberschichts-Athener die Fortsetzung des Krieges selbst unter demokratischen (beziehungsweise gemäßigt-demokratischen) Vorzeichen im Vergleich zu der von den radikalen Oligarchen verfochtenen Linie der Nachgiebigkeit gegen Sparta als die zu präferierende Politik gegolten haben muss, zeigen in hinreichender Deutlichkeit die Vorgänge beim Sturz der Vierhundert und die Opposition führender Offiziere gegen den Friedensschluss von 404, s. dazu Heftner (wie Anm. 25) 22f. und 26f.

[30] S. neben den o. Anm. 23 und 24 zitierten Äußerungen des Ps.-Xenophon und Thukydides die von Kritias in der Anklagerede gegen Theramenes implizierte Charakteristik der Oligarchie als eines Regimes der βελτίονες (Xen. hell. 2,3,32). Eine Widerspiegelung dieser Vorstellungen aus der Perspektive der politischen Gegenseite findet sich in Lys. 18,4f., wo der Stratege Eukrates dafür gerühmt wird, dass er der Sache der Demokratie treu geblieben sei, obwohl er von seiner Position her für die Teilhabe an der Oligarchie geradezu prädestiniert gewesen und auch von den Verschwörern zur Beteiligung an ihrer Bewegung aufgefordert worden sei.

[31] S. z. B. Lys. 18,6, wo betont wird, dass Nikeratos, der Sohn des Nikias, aufgrund seines Vermögens und seines sozialen Status’ ohne weiteres für die Teilhabe am Regime der Dreißig qualifiziert gewesen wäre (vgl. Xen. hell. 2,3,39 wo derselbe Mann als καὶ πλούσιος καὶ οὐδὲν πώποτε δημοτικός bezeichnet wird).

[32] Zur antidemokratisch-geheimbündlerischen Konnotation des Hetairien-Begriffs im späten 5. Jh. s. Heftner (wie Anm. 3) 66f.

[33] [Aristot.] Ath. Pol. 34,3 ... τῶν δὲ γνωρίμων οἱ μὲν ἐν ταῖς ἑταιρείαις ὄντες, καὶ τῶν φυγάδων οἱ μετὰ τὴν εἰρήνην κατελθόντες ὀλιγαρχίας ἐπεθύμουν, οἱ δ’ ἐν ἑταιρείᾳ μὲν οὐδεμιᾷ συγκαθεστῶτες, [ἄ]λλως δὲ δοκοῦντες οὐδενὸς ἐπιλείπεσθαι τῶν πολιτῶν, τὴν πάτριον πολιτείαν ἐζήτουν.

[34] Verbannung durch die Dreißig ist uns für Alkibiades, Thrasybulos und Anytos ausdrücklich belegt (Xen. hell. 2,3,42, weitere Belege bei Németh [wie Anm. 4] 155f.), Flucht ins Exil aufgrund von den Dreißig eingeleiteter Verfolgung für Nikias, den Cousin des Euthynos (PAA 711680), s. Isokr. 21,2f. und 11–13, dazu Németh a. O. 156. Archinos und Phormisios sind uns unter den Phylekämpfern bezeugt (für Archinos s. Dem. 24,135; Aischin. 3,187.195 sowie das Ehrendekret für die Phylekämpfer [ed. A. E. Raubitschek, The Heroes of Phyle, Hesperia 10 (1941) p. 288,] Z. 55; für Phormisios s. Dion. Hal. rhet. Lys. 32 [= argumentum zu Lys. or. 34]).

[35] Wenn wir von den 404 gegen den Friedensschluss opponierenden Strategen und Taxi­archen absehen (s. Németh [wie Anm. 4] 142–144 mit Belegen), deren Hinrichtung noch als Nachspiel einer der Errichtung der Oligarchie vorausgehenden politischen Auseinandersetzung gelten kann, lassen sich folgende Persönlichkeiten aus den Reihen der athenischen Oberschichten als Opfer von durch die Dreißig veranlassten Tötungsakten namhaft machen: Antiphon, Sohn des Lysonides (Xen. hell. 2,3,40; [Plut.] mor. 833ab); Autolykos, Sohn des Lykon (Diod. 14,5,7; Plut. Lys. 15,7f.); Leon von Salamis (Xen. hell. 2,3,39; Plat. Apol. 32cd; Andok. 1,94); Nikeratos, Sohn des Nikias (Xen. hell. 2,3,39; Lys. 18,6; Diod. 14,5,5); Lykurgos der Butade ([Plut.] mor. 841b); zu all den Genannten s. Németh (wie Anm. 4) 145–149.

[36] Xen. hell. 2,3,38–40.

[37] Besonders deutlich ausgesprochen im Zusammenhang mit dem hingerichteten Antiphon (Sohn des Lysonides, s. o. Anm. 35), dessen Tod all jene, „die sich willig für die Polis eingesetzt hatten“, alarmieren und mit Misstrauen gegen das Regime erfüllen werde (Xen. hell. 2,3,40). Der generelle Tenor der Stelle erweckt den Eindruck, dass nicht nur dieser Antiphon, sondern auch die anderen namentlich genannten Opfer des Regimes als Repräsentanten der πρόθυμοι τῇ πόλει γεγενημένοι gedacht sind.

[38] Für eine (eingeschränkt) bejahende Antwort auf diese Frage s. S. Usher, Xenophon, Critias and Theramenes, JHS 88 (1968) 133–135, für eine skeptische Position Krentz (wie Anm. 1) 132. Der Verfasser der neuesten Untersuchung zu Theramenes, Frédéric Hurni, nimmt zur Frage der Authentizität der xenophontischen Theramenesrede keine Stellung, betrachtet sie aber hinsichtlich der in ihr enthaltenen Aussagen offensichtlich als zuverlässige Quelle (F. Hurni, Théramène ne plaidera pas coupable. Un homme politique engagé dans les révolutions athéniennes de la fin du Ve siècle av. J.-C., Basel 2010, 327–329).

[39] Zu den politischen Anschauungen der ‚Gemäßigten‘ unter den aristokratischen Demokratiekritikern, deren Zielsetzungen gerade im Bereich der Verfassungspolitik durch Unbestimmtheit und die Offenheit für moderat-demokratische Kompromisslösungen geprägt waren, s. Heftner (wie Anm. 25) 5–8. 17. 25; vgl. ebd. 31–33, wo betont wird, dass führende Vertreter des gemäßigten Spektrums sich — offenbar von Anfang an — vom Regime der Dreißig distanziert hatten.

[40] Für einen illustrativen Beispielfall s. die Einladung der Dreißig an Platon (Plat. Epist. 7,324cd).

[41] Németh (wie Anm. 4) führt 76 Anm. 9 die Beispiele des Alkibiades im Poteidaiafeldzug (Isokr. 16,29; Plat. Symp. 219e.220de) und des Kimon im Vorfeld der Schlacht von Tanagra (Plut. Kim. 17,4–6; Per. 10,1–3) an (wobei der letztgenannte Fall vielleicht nicht mehr als eine fromme Legende darstellt); an anderer Stelle (85 Anm. 55) verweist er auf die im Corpus Lysiacum erwähnten Fälle des jüngeren Alkibiades (Lys. 14,7f.) und des Mantitheos (16,13). Bei dem von ihm in diesem Zusammenhang ebenfalls angeführten Mauerwachdienst der Ritter in Xen. hell. 2,4,24 handelte es sich allerdings nicht um einen regulären Hoplitendienst, sondern um die Reaktion der Ritter auf eine politische und militärische Ausnahmesituation (vgl. weiter unten).

[42] Dies vermutet Németh etwa für die Zeit des Korinthischen Krieges, als die Athener die durch die Entsendung von dreihundert Reitern nach Asien im Jahre 401/400 (Xen. hell. 3,1,4) in ihrer Kavallerie entstandene Lücke aufzufüllen hatten (Németh [wie Anm. 4] 85; vgl. dens., ZPE 104 [1994] 100).

[43] [Xen.] Ath. Pol. 3,4; die Glaubwürdigkeit der Zahlenangabe ist nicht unumstritten, s. Weber (wie Anm. 23) 147; sie kann jedoch akzeptiert werden, wenn wir davon ausgehen, dass es sich nicht um die Zahl der tatsächlich zur Leistung einer Trierarchie, sondern um die Gesamtzahl der für die Heranziehung zu einer solchen Leistung im betreffenden Jahr verfügbaren Personen handelt, s. J. K. Davies, Wealth and the Power of Wealth in Classical Athens, Salem NH 1984, 16f.

[44] Lys. 21,2f. Isai. 7,38.

[45] Man beachte, dass man wahrscheinlich schon für die Phase des Dekeleischen Krieges mit der Einführung von Syntrierarchien rechnen kann, s. B. Jordan, The Athenian Navy in the Classical Period, Berkeley u. a. 1975, 70–73. Zur Vergabe der Trierarchien im 5. Jh. generell und zur Tatsache, dass nicht mit jeder übernommenen Trierarchie eine gleich hohe finanzielle Belastung verbunden war, s. G. Busolt, H. Sowboda, Griechische Staatskunde Bd. II, München 1926 [= Handb. d. Altertumswiss. IV.1.1.2], 1200. Was die von Németh (wie Anm. 4) 85 Anm. 54 angeführten Rednerzeugnisse betrifft, so erhält man zumindest bei der in Lys. 21,1–11 gegebenen Aufzählung der vom Sprecher erbrachten Leistungen den Eindruck, dass diese nicht als im Rahmen des Üblichen befindlich, sondern als Belege eines patriotischen Einsatzes von ganz außergewöhnlichen Dimensionen präsentiert werden.

[46] Für einen Gesamteindruck s. Thuk. 7,27,3–28,2; dazu G. Busolt, Griechische Geschichte III 2, Gotha 1904, 1405–1420 (s. allerdings auch die relativierenden Ausführungen bei V. D. Hanson, Warfare and Agriculture in Ancient Greece, Berkeley u. a. ²1998, 153–166. 237–240).

[47] Zusammenstellungen von Beispielen mit Belegen bieten Busolt (wie Anm. 46) 1405 Anm. 1 und D. Kagan, The Fall of the Athenian Empire, Ithaca u. a. 1987, 3f. und 110f.; s. neben den dort angeführten Belegen auch noch insbesondere das von Lys. 19,45–48 gezeichnete Gesamtbild.

[48] Eine ganze Anzahl oligarchisch gesinnter Aristokraten war zwischen 411 und 405 ins Exil getrieben worden (zur Rolle dieser Verbannten beim Umsturz von 404 s. [Aristot.] Ath. Pol. 34,3; vgl. Lys. 18,9), andere werden zur gleichen Zeit Zielscheibe der von ‚sykophantischen’ Anklägern betriebenen gerichtlichen Kampagnen gewesen sein (s. dazu z. B. Lys. 25,25f.) und im Zuge dieser Prozesse zusätzliche Vermögenseinbußen erlitten haben.

[49] Dass Xenophon während der Umwälzungen 404/3 im Reiterkorps der Oligarchen gedient hat, lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit aus diversen in seiner Darstellung der Geschichte der Dreißig und des anschließenden Bürgerkrieges zu findenden Indizien erschließen, s. E. Schwartz, Quellenuntersuchungen zur griechischen Geschichte, RhM 44 (1889) 165 und
J. K. Anderson, Xenophon, London 1974, 55.

[50] Németh (wie Anm. 4) 60.63.

[51] Die Ausnahme bilden hier wohl die ἄλλοι ἱππεῖς von Xen. hell. 2,4,9 (zitiert oben);
weiteres dazu siehe unten, S. 157.

[52] Xen. hell. 2,4,2 (zit. oben) und 2,4,10.

[53] Xen. hell. 2,4,8.

[54] Xen. hell. 2,4,24, s. dazu Heftner (wie Anm. 25) 36. Németh (wie Anm. 4) 88 veranschlagt den politischen Einfluss des Ritterkorps in jenen Umbruchstagen so hoch, dass er das damals installierte Regime der ‚Zehn‘ als eine „Regierung der Ritter“ einzuschätzen geneigt ist.

[55] Xen. hell. 2,4,26.

[56] [Aristot.] Ath. Pol. 35,1.

[57] Xen. hell. 2,3,23. 50.

[58] Németh (wie Anm. 4) 68f., 85 und 89.

[59] Németh (wie Anm. 4) 68–70 und 89f.

[60] Man beachte, dass die Ausdrucksweise von Xen. hell. 3,1,4 „Thibron forderte auch dreihundert Reiter von den Athenern … sie sendeten ihm Leute von jenen, die unter den Dreißig als Reiter gedient hatten“ (ᾐτήσατο δ’ ὁ Θίβρων καὶ παρ’ Ἀθηναίων τριακοσίους ἱππέας, ... οἱ δ’ ἔπεμψαν τῶν ἐπὶ τῶν τριάκοντα ἱππευσάντων), wörtlich verstanden, bedeuten würde, dass die dreihundert zu Thibron gesandten ἱππεῖς aus der Zahl der seinerzeit unter den Dreißig Dienenden ausgewählt wurden, dass also die Reiterei der Dreißig mehr als dreihundert Mann umfasst hatte (in diesem Sinne auch Krentz [wie Anm. 1] 159).

[61] Busolt, Swoboda (wie Anm. 45) 1186f.; Németh (wie Anm. 4) 78.

[62] Lys. 16,6f.

[63] Siehe oben S. 149.

[64] Xen. hell. 2,3,19: ὁ δ’ αὖ Θηραμένης καὶ πρὸς ταῦτα ἔλεγεν ὅτι ἄτοπον δοκοίη ἑαυτῷ γε εἶναι τὸ πρῶτον μὲν βουλομένους τοὺς βελτίστους τῶν πολιτῶν κοινωνοὺς ποιήσασθαι τρισχιλίους, ὥσπερ τὸν ἀριθμὸν τοῦτον ἔχοντά τινα ἀνάγκην καλοὺς καὶ ἀγαθοὺς εἶναι, καὶ οὔτ’ ἔξω τούτων σπουδαίους οὔτ’ ἐντὸς τούτων πονηροὺς οἷόν τε εἴη γενέσθαι. [Aristot.] Ath. Pol. 36,2 Θηραμένης δὲ πάλιν ἐπιτιμᾷ καὶ τούτοις, πρῶτον μὲν ὅτι βουλόμενοι μεταδοῦναι τοῖς ἐπιεικέσι τρισχιλίοις μόνοις μεταδιδόασι, ὡς ἐν τούτῳ τῷ πλήθει τῆς ἀρετῆς ὡρισμένης...

[65] Xen. hell. 2,3,51; wenn demgegenüber ein Passus der aristotelischen Athenaion Politeia (37,1), wörtlich genommen, den Eindruck erwecken könnte, dass Theramenes nicht zu den Dreitausend gehört hätte, so hat dies dem Zeugnis des Zeitgenossen Xenophon gegenüber von vornherein wenig Gewicht und erweist sich auch im Kontext der Verfassungsschrift als nicht plausibel: Wenn das dort erwähnte Gesetz, das den Widersachern der Oligarchie von 411 das Bürgerrecht (das heißt die Mitgliedschaft in den Dreitausend) aberkannte, gegen Theramenes gerichtet war, so setzt dies voraus, dass er eben bis dahin Mitglied der Dreitausend gewesen ist. Wir müssen hier davon ausgehen, dass der Autor der Verfassungsschrift den in seiner Quelle gebotenen ursprünglichen Zusammenhang zwischen den beiden von ihm in 37,1 zitierten Gesetzen missverstanden oder missverständlich wiedergegeben hat. (Für eine plausible Vermutung zum historischen Hintergrund des Gesetzes über die Entrechtung der Antioligarchen von 411 s. C. Hignett, A History of the Athenian Constitution to the End of the Fifth Century B.C., Oxford 1952, 389).

[66] Dass wir Theramenes ohne Zweifel der obersten Zensusklasse zuzählen können, ergibt sich schon aus seiner Trierarchie im Jahre 406 (Xen. hell. 1,6,35).

[67] In diesem Sinne auch G. R. Bugh, The Athenian Cavalry from the Sixth to the Fourth Centuries B.C., Diss. Univ. Maryland 1979, 194f.

[68] Vgl. ἐν τῷ καταλόγῳ ὁπλῖται in der oben zitierten Passage Xen. hell. 2,4,9. Hinsichtlich der in 2,4,28 gegebenen Situation ist zu beachten, dass sich damals nicht mehr alle der ursprünglich zu den Dreitausend Gehörenden in der Stadt befanden: Xen. hell. 2,4,25 bezeugt den Übertritt einer beträchtlichen Anzahl der Hopliten zu den Piräuskämpfern. Ob das Regime der Zehn versucht hat, die entstandenen Lücken etwa durch Neuaufnahmen zu schließen, ist uns nicht überliefert.

[69] Xen. hell. 2,4,24f., dazu Heftner (wie Anm. 25) 36f. und Németh (wie Anm. 4) 88f.

[70] Zur fünfhundertköpfigen Bule unter den Dreißig s. [Aristot.] Ath. Pol. 35,1; vgl. Xen. hell. 2,3,11 und Diod. 14,41f.; s. dazu Rhodes (wie Anm. 1) 437f. mit weiteren Belegen. Zur Funktion der Bule als oberster Gerichtshof (in Prozessen gegen Mitglieder der Dreitausend) s. Xen. hell. 2,3,23. 50f.; Diod. 14,4,5; zur Gesetzgebungsfunktion der Bule s. [Aristot.] Ath. Pol. 37,1.

[71] S. dazu Rhodes (wie Anm. 1) 438.

[72] Lys. 16,3–8; 26,10; man vergleiche auch die Bemerkung bei Xen. hell. 3,1,4.

[73] [Aristot.] Ath. Pol. 35,1; dazu Németh (wie Anm. 4) 68f.

[74] Siehe oben S. 155.

[75] Dass der Sprecher von Lys. 25 zum vermögenden Teil der Oberschicht gehörte, macht er selbst in dem in § 12 gebotenen Katalog seiner Leiturgien deutlich; dass er zu den Dreitausend gehörte, ist meines Erachtens implizit aus der in § 14f. gegebenen Beschreibung seiner Position unter der Herrschaft der Dreißig zu erschließen: Der Sprecher legt Wert auf die Feststellung, damals kein Amt bekleidet zu haben und nicht Mitglied der Bule gewesen zu sein; hätte er nicht auf der Liste der Dreitausend gestanden, so hätte er sicherlich auch diesen Umstand explizit hervorgehoben.

[76] Lys. 25,14–18.

[77] Es sei hier auf die damaligen Aktivitäten des Archinos und Phormisios verwiesen, s.
dazu Strauss (wie Anm. 6) 96–99 und Heftner (wie Anm. 25) 37f.

[78] Xen. hell. 2,4,25.

[79] Die Schilderung der gegenseitigen Fouragierungszüge zwischen „denen in der Stadt“ und den Piräuskämpfern bei Xen. hell. 2,4,25–27 lässt deutlich erkennen, dass während dieser Kämpfe die reguläre Feldbestellung weithin schwer gestört, wenn nicht völlig unterbunden gewesen sein muss, und dies wird durch das im Zwiegespräch zwischen Aristarchos und Sokrates Xen. mem. 2,7,2 gezeichnete Bild im Grunde bestätigt. Diejenigen Oberschicht-Angehörigen unter den Piräuskämpfern, die schon seit längerer Zeit im Exil waren, waren von vornherein von den Quellen ihres Einkommens abgeschnitten, diejenigen, die erst nach der Besetzung des Piräus in Thrasybulos’ Lager strömten, werden angesichts der im Land herumstreifenden oligarchischen Hippeis kaum Zugang zu ihren Gütern gehabt haben.

[80] S. etwa Lys. 26,17f., wozu die oben auf S. 159 mit Anm. 72 angeführten Stellen zu vergleichen wären. Es sei dabei grundsätzlich bemerkt, dass auch den ehemaligen Mitgliedern des Hippeis-Korps gegenüber die Abneigung des Demos nicht unüberwindlich war: Mantitheos kann jedenfalls in seiner nach 394 gehaltenen Rede darauf verweisen, dass viele der seinerzeitigen Hippeis in der wiederhergestellten Demokratie in der Bule gesessen oder zu Strategen und Hipparchen gewählt worden seien (Lys. 16,8) — auch wenn wir hier sicherlich mit einem Element der Übertreibung rechnen müssen, wird man die Passage doch grundsätzlich als Beleg dafür zu nehmen haben, dass den ehemaligen Reitern der Dreißig nach 403 die Möglichkeit offenstand, sich in den Augen ihrer Mitbürger zu rehabilitieren, und dass diese zumindest in einigen Fällen auch wahrgenommen wurde. Dementsprechend ist die in Lys. 26,10 zu findende Behauptung, dass ehemalige Mitglieder des Reiterkorps, sollten sie als Buleuten erlost worden sein, bei der Dokimasie automatisch zurückgewiesen würden, als eine Übertreibung in die andere Richtung zu werten.

[81] Xen. hell. 2,4,24–26; [Aristot.] Ath. Pol. 38,1; dazu Heftner (wie Anm. 25) 34–36. Es sei in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass in der aristotelischen Athenaion Politeia (38,2) von der Hinrichtung eines oppositionell gesinnten Mannes namens Demaretos durch das Regime der Zehn die Rede ist, der dort als οὐδενὸς ὢν δεύτερος τῶν πολιτῶν bezeichnet wird und daher wohl der sozialen Elite zugezählt werden kann. Der Kontext der Stelle macht klar, dass dieser — in der Überlieferung sonst nicht bekannte — Demaretos als Repräsentant der gegen den Oligarchie- und Kriegskurs der Zehn opponierenden Kreise hingerichtet worden ist.

[82] D. Whitehead, Sparta and the Thirty Tyrants, AncSoc 13/14 (1982/83) 126–130, bes. 130.